Das boese Blut der Donna Luna
dem Marco den Anwalt getroffen hatte, und Nelly betrachtet die Drucke, Stiche und Fotos. Das berühmte Klassenfoto mit Don Silvano und Federico Manara, Jahre bevor ihre Leben durch die Hand desselben Mannes ein jähes Ende finden sollten.
»Dottoressa Rosso, richtig? Von der Polizei Genua, Mordkommission. In diesem von Toten wimmelnden Haus. Es würde meinen geliebten griechischen Tragödien alle Ehre machen. Was wollen Sie?«
»Professor Lucrezio Manara?«
»Leider. Ich habe Ihnen aus Neugier geöffnet. Das ist alles, was mir noch geblieben ist, aber besser als nichts, finden Sie nicht? Die Lebenden sind neugierig, die Toten nicht mehr. Mein Bruder hat wenigstens noch zwei weitere Söhne, und der, den er verloren hat, Friede seiner Seele, war nicht gerade der am besten gelungene.«
Nelly beschloss, sofort zur Sache zu kommen.
»Wie Sie wissen, Professore, sind die Köpfe der Opfer unauffindbar. Das macht den Schmerz für die Angehörigen noch größer. Ich dachte, dass Sie mir vielleicht helfen könnten.«
»Die Opfer ... von Giuliano. Meinem Sohn. Muss ich mich denn verantwortlich fühlen? Für diesen Jahre zurückliegenden schwachen Moment, der zu seiner Geburt geführt hat?«
»Es tut mir leid, Professore, diese Frage müssen Sie jemandem stellen, der mehr davon versteht, ich fürchte, sie gehört zu den zahllosen Fragen, auf die ich keine Antwort habe. Die Fragen, die ich an Sie habe, sind sicher etwas leichter zu beantworten. Wie war ihr Verhältnis zu Giuliano?«
»Als er klein war, habe ich versucht, ihn aus meinem Leben rauszuhalten, um seine Mutter von mir fernzuhalten. Vielleicht, nein, ganz bestimmt war das der Fehler.« Mit nach innen gerichtetem Blick ließ er die Vergangenheit Revue passieren. »Sie war eine niederträchtige, gierige, rücksichtslose Frau, und ich habe ihn ihr überlassen, um sie nicht in meiner Nähe zu haben. Später ... war es dann natürlich zu spät.«
»Später, wann?«
»Als sie mit einem Mann abgehauen ist und ihn ohne einen Cent zurückgelassen hat, ein halbes Kind. Er hat mich aufgesucht, und ich habe ihm ein Monatsgeld gegeben und ihm das Studium finanziert. Ich habe ihm eine kleine Wohnung in der Altstadt besorgt. Ein hübscher, intelligenter Junge, er ähnelte mir.« Die Stimme schien zu zittern, doch der Alte hatte sich sofort wieder im Griff. »Doch der Schaden war bereits angerichtet, er hasste mich, und es gab schon erste Anzeichen des Übels.«
»Des Übels?«
»Plappern Sie mir doch nicht alles nach, Dottoressa! Ja, des Übels, der psychischen Störungen, der Krisen, des Hasses, der ihn zerfleischte, des Hasses auf seine Mutter, auf mich.«
»Ihr Sohn litt an psychischen Störungen? Und das wussten Sie?«
Der Mann machte eine Handbewegung, als wolle er sagen, »jetzt ist es eh zu spät«.
»Dass er Probleme hatte, wusste ich, natürlich, aber ich hätte niemals gedacht ... Entschuldigen Sie, aber das, was er getan hat ... sieht das für Sie etwa nach einem geistig gesunden Menschen aus?«
Nelly ging auf die müde Ironie und den ohnmächtigen Schmerz des Professors nicht ein.
»Aber wollten Sie ihn nicht anerkennen? Lagen Sie darüber nicht sogar im Rechtsstreit?«
»Zuerst wollte ich ihn nicht anerkennen, aber in letzter Zeit war ich zu allem bereit, um ihm zu helfen, damit er wieder gesund würde, es ihm besser ginge, wir waren dabei, uns zu einigen. Zum Zeichen meines guten Willens hatte ich ihm Casa Marianna überlassen, Sie wissen schon, das Haus ... wo er dann ... Er war dort gern, auf dem Land, ich hatte gehofft ... Aber es war zu spät.«
Die sonst so kräftige, herrische Stimme erstarb in einem tonlosen Wispern. Er starrte auf seine ineinander verklammerten Hände und sah noch gebeugter aus als sonst.
Einen Augenblick lang respektierte Nelly sein Schweigen, doch die Frage brannte ihr auf der Zunge. Sie gab sich einen Ruck.
»In welchem Verhältnis stehen Sie zu Alessandro Palmieri, Professor Manara?«
Der Professor hob jäh den Kopf, runzelte die Stirn und blickte sie mit seinen tränenerfüllten Augen direkt an.
»Alessandro ... aber wieso interessiert Sie das?«
»Ich habe Sie zusammen gesehen, am Mittwoch bei der Pressekonferenz. Auch ich lebe von der Neugier. Das gehört zu meinem Beruf.«
Der Alte überlegte einen Moment, dann ...
»Ich kenne Alessandro schon ewig, er war ein Klassenkamerad von Silvano und Chicco.«
Nelly starrte ihn an, während sie versuchte, die Neuigkeit, die wie eine Bombe in ihr Hirn eingeschlagen war,
Weitere Kostenlose Bücher