Das boese Blut der Donna Luna
prüfte die Möglichkeiten. Sie stieß auf ein zweites Gartentor, das kleiner und weniger einsehbar war als das erste und womöglich nicht von einer Kamera überwacht wurde. Es sah aus, als sei es schon seit Jahren nicht mehr benutzt worden.
Sie blickte sich noch einmal um, nichts. Links und rechts vom Gartentor standen zwei runde Prellsteine. Sie stellte sich mit einem Fuß auf einen der Prellsteine, setzte den anderen auf die Querstangen des Gartentors und zog sich behände bis zur Mauer hinauf. Obwohl sie versuchte, den scharfen Zaunspitzen auszuweichen, blieb sie mit ihrem blau geblümten Kleid daran hängen und riss sich ein Loch hinein. Innerlich fluchend kletterte sie auf der anderen Seite hinunter. Kein Alarm, sie hatte recht gehabt, umso besser. O Mist, hab ich sie noch alle, was mache ich denn hier , doch sie wusste, dass sie keinen Rückzieher machen würde. Ihr schien, als seien die letzen Tage und Wochen auf diesen einen Punkt, auf diesen Moment zugelaufen. Sie hatte Angst, doch die Erregung war stärker als jede Furcht.
Sie umrundete das Haus, Türen und Fenster sahen verrammelt aus. Beim zweiten Rundgang entdeckte sie auf der Rückseite des leicht erhöhten Erdgeschosses einen halb angelehnten Fensterladen. Wieso war ihr der nicht gleich aufgefallen? Es war so einfach, sie würde noch nicht einmal einbrechen müssen, was sowieso schwierig geworden wäre, denn sie hatte nur ihren treuen Allzweck-Leatherman bei sich. Sie klammerte sich an der Jungfernrebe fest, die am Haus emporwuchs, kletterte zum Fenster, das in rund zwei Meter Höhe lag, und stieß behutsam die angelehnten Klappläden auf. Das Fenster stand offen, ob vor ihr bereits Diebe hier gewesen waren? Sie war drin.
Das Haus empfing sie mit würzig duftender Dunkelheit. Sie stand in einer geräumigen Küche, zog die Handschuhe an, die sie immer in der Tasche hatte, und konnte nach und nach einen langen Arbeitstisch mit Herd und Abzugshaube erkennen, die weißblauen Kacheln an der Wand, die modernen Küchengeräte. Zögernd näherte sie sich dem Kühlschrank und riss ihn auf, er war leer. Sie seufzte erleichtert auf. Mensch, Nelly, was hast du denn erwartet? Dass die Köpfe hübsch aufgereiht da drin liegen?
Im Erdgeschoss eine Folge von Wohnzimmern und Salons, ein englisch anmutendes, holzgetäfeltes Arbeitszimmer mit Regency-Möbeln und Kamin, vielleicht eine wehmütige Reminiszenz des Vaters an die Jahre in England? Doch ein Bild oder ein Foto des Botschafters war nirgends zu entdecken. Stattdessen hing ein weiteres Bild der Mutter über dem Kamin, diesmal war sie allein und blickte mit gedankenverlorener Miene auf das ferne Meer hinaus. Die Ähnlichkeit mit Alessandro war frappierend, nur die Augen waren völlig anders, ihre waren dunkel und leicht schräg, Alessandros hingegen bräunlichgrün mit gelben Sprenkeln. Wie die einer Katze oder einer Schlange.
Nelly schnüffelte überall herum, in Schubladen, Schränkchen, Sekretären, Truhen. Das Haus eines wohlhabenden, kultivierten, allseits interessierten und gebildeten Mannes. Besonders das Arbeitszimmer hatte es ihr angetan, sie versuchte, den Aktenschrank mit den Patientenkarten aufzubrechen, doch der war gepanzert und hielt den Angriffen von Nellys Leatherman mühelos stand. Um keine allzu sichtbaren Spuren zu hinterlassen, musste Nelly aufgeben, beschloss aber, es mit Gerolamo, einem echten Experten in diesen Dingen, noch einmal zu versuchen. So leichfüßig, wie es die Hitze und ihre siebzig Kilo Lebendgewicht zuließen, stieg sie die Treppe hinauf, öffnete eine Tür und trat in ein dämmriges Zimmer. Nach und nach gewöhnten sich die Augen an das spärliche Licht, und über ihr tat sich der Himmel auf. Mit einem Schauder stellte sie fest, dass es sich um die Decke handelte, die wie im Erdgeschoss bemalt war, nur dass der Mond unten im ersten Viertel war, hier war er voll und leuchtete silbrig vom blauen Himmelsgrund.
O mein Gott, wieso habe ich das nicht gleich kapiert? Deshalb hatte ich das Gefühl, dass in diesem Haus etwas faul ist. Deshalb hat er mich gehasst, als ich von den Mondphasen sprach. Ich hatte ins Schwarze getroffen, aber wie ist es möglich, dass Alessandro etwas mit den Morden zu tun hat? Es war Zanni, das steht fest ... Na los, jetzt finden wir auch noch das letzte Viertel und den Neumond.
Es war genau, wie Nelly gedacht hatte. Das erste Schlafzimmer, das mit dem Vollmond, war ganz in Gelb und Gold gehalten, das zweite mit dem letzten Viertel in Karminrot
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