Das Böse, das im Herzen schläft: Thriller (German Edition)
relativ guter Gesundheit gewesen war. Also appellierte ich an Lydia MacBride: » Bitte, bitte tun Sie das nicht. Es wird sie umbringen.« Ich wusste nicht genau, ob ich den Stress oder den Hunger meinte. Aber sie hatte mir bereits den Rücken zugewandt. » Es wird sie umbringen!«, wiederholte ich, als die schwere Handschelle sich um mein Handgelenk schloss.
Auf der kurzen Autofahrt zum Polizeirevier konnte mein sehr reales Entsetzen die freudige Erwartung nicht ganz überlagern, die sich regte, als ich mir vorstellte, wie Lydia MacBride wegen dieser Irreführung der Justiz verhaftet wurde. Unter der Sorge um meine leidende Mutter erwachte bereits die Sehnsucht nach dem Augenblick, da ich ihr erzählen würde, was passiert war.
Halb rechnete ich damit, dass Lydia schon auf dem Polizeirevier auf mich wartete– mit Handschellen gefesselt wie ich. Aber der Aufnahmeraum, in den sie mich bugsierten, war leer bis auf mich und eine Polizistin mit eulenhaften Brillengläsern.
» Wie alt bist du?«, fragte sie in vorwurfsvollem Ton, als sei mein Alter ein Indikator für meine Schuld.
» Ich werde demnächst siebzehn«, sagte ich.
» Verdammt , du siehst aus wie zwölf. Die müssen doch gewusst haben, dass du minderjährig bist. Sie müssen es mir mitteilen, wenn ich einen entsprechenden Erwachsenen hinzuziehen muss.« Sie verdrehte die Augen, sah mich dann wieder an und sprach langsam, als wäre ich schwachsinnig. » Du bist minderjährig . Das bedeutet…«
» Ich weiß, was minderjährig bedeutet.«
» Wir brauchen einen Erwachsenen, der dabeisitzt, wenn wir dir deine Rechte vorlesen und so weiter. Wohnst du bei deiner Mum?«
» Das habe ich denen alles schon gesagt! Meiner Mum geht es nicht gut. Sie kann nicht kommen.«
» Und dein Dad?«
» Holen Sie meinen Onkel.« Ich diktierte ihr Kenneth’ Nummer. » Und er soll meiner Mutter sagen, wo ich bin. Ich will nicht, dass sie sich Sorgen macht.«
Aus dem Klang der zuschlagenden Autotüren draußen schloss ich, dass die Zellen sich neben oder vielleicht unter dem Hof befanden, in den sie mich gefahren hatten. Der Raum, in den sie mich sperrten, war in einem grellen Gelb angestrichen, das in der Natur nirgends existierte. Sie ließen mich dort. Wo war Kenneth? Der heiße, fettige Geruch von industriell hergestelltem Essen drang durch die Luke in der Tür, und meine heimtückischen Geschmacksnerven ließen den Speichel fließen.
» Zimmerservice«, ertönte eine Stimme, und eine Pappschachtel wurde durch die Luke geschoben. Auf der Schachtel stand » Holzofenpizza«, aber der Inhalt sah aus wie Bronchialschleim, den man auf eine blutige Mullkompresse gehustet hatte. Als die Tür sich nach einer Ewigkeit wieder öffnete, war die Gestalt hinter PC 089 nicht etwa Kenneth in seinem Sportsakko, sondern eine dicke Frau mittleren Alters in einem weiten indischen Hosenanzug.
» Hallo, Schätzchen«, sagte sie. » Keine Sorge, ich erkläre dir alles.«
» Wer ist das? Wo ist mein Onkel?«
» Wer?«, fragte PC 089. » Ach so. Ja. Nein, wir konnten ihn nicht erreichen. Zima ist Sozialarbeiterin.«
Aber wenn Kenneth nicht kam, bedeutete das, meine Mutter wusste nicht, wo ich war. Vielleicht würden sie mir erlauben, sie anzurufen; sie würde sich inzwischen genug Sorgen machen, um ans Telefon zu gehen, und ich könnte ihr eine kleine Notlüge auftischen, um ihren Seelenfrieden zu erhalten, bis ich mit der abscheulichen, wunderbaren Wahrheit über Lydia MacBride nach Hause käme.
» Ich muss meine Mutter anrufen, und zwar sofort.«
» Schon gut, Schätzchen«, sagte Zima.
Irgendwo draußen fiel eine Stahltür dröhnend ins Schloss. Jemand rief PC 089 weg. Er redete in drängendem Flüsterton und kam dann zurück. » Tut mir leid, ich habe deine Zeit verschwendet«, sagte er, aber er sprach mit Zima, nicht mit mir.
» Kann irgendjemand mir vielleicht sagen, was zum Teufel hier los ist?«, fragte ich.
» Hat sich rausgestellt, dass du die Wahrheit sagst«, erklärte PC 089. » Wir haben die Kreditkarten des Opfers bei einer nachfolgenden Verhaftung bei jemand anderem gefunden. Macht die Schotten dicht; sie bringen jetzt Ricky Jinks«, sagte er zu der Polizistin, und die verdrehte die Augen.
» Schon wieder?«, fragte sie.
PC 089 wandte sich wieder an mich. » Du kommst ohne Anklage auf freien Fuß. Diesmal.«
Jetzt kämpften Erleichterung und Wut in mir.
» Ich nehme an, als Nächstes werden Sie Lydia MacBride festnehmen? Die Augenzeugin, die mich am Tatort gesehen
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