Das Böse in dir
kennen doch sicher diese Art von Stühlen. Die, auf die sich niemand zu setzen wagt. Das erklärte auch, warum alle Gäste ihre Umgebung grüppchenweise und im Stehen bewunderten. Zweietagige Kronleuchter hingen an der Decke. Da es im Raum ziemlich dämmrig war, waren sie eingeschaltet. Beide wiesen unzählige große Glaskugeln auf, unter denen Tautropfen aus Kristall baumelten. Ja, das hier war eindeutig der Palast des ersten Mannes im Staate.
Wir setzten unsere ehrfürchtigsten Mienen auf und schlängelten uns durch die Menschenmenge. Die meisten Anwesenden waren wieder in eine gedämpfte Tonlage zurückgefallen. Doch hin und wieder hallte Gelächter im Raum wider, sodass alle zusammenzuckten. Ich verstand diese Menschen nicht, doch vermutlich glaubten manche, dass eine leutselige Art und eine gelegentliche Lachsalve die Trauernden davon ablenkt, dass ihr geliebter Angehöriger nun tot und kalt unter der Erde liegt. Ich würde von dieser Strategie eher abraten.
Links von uns entdeckten wir eine Art Bibliothek, ausgestattet mit viel grüner und goldener Seide. Sehr viktorianisch. Dazu noch ein marmorner Kamin, ebenfalls mit einem großen Spiegel darüber, in dem sich ein nicht minder großer Kronleuchter reflektierte. Außerdem gab es hier einige antike Bücherschränke voller Bücher, zweifellos Erstausgaben der Werke wortgewandter Bürger Missouris. Mir fiel zu diesem Thema nur Mark Twain ein. Es befanden sich noch ein oder zwei Ehepaare im Raum, die alles betrachteten. Der Raum, der rechts von der Vorhalle abging, diente offenbar als Salon. Die Wände waren altrosa, die viktorianischen Möbel ebenfalls rot. Vielleicht war das ja die einzig akzeptable Farbe für die Möbel jener Zeit.
Es gab hier sogar ein Möbelstück, das mir gefiel; es war wirklich recht ungewöhnlich, eine Art rundes Sofa, mit abgetrennten Sitzen auf allen vier Seiten. Darüber hing wieder ein Kronleuchter. Ich hatte einen solchen Sofasessel in einem alten Western mit Alan Ladd gesehen. Vielleicht in Shane. In Hotelhallen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Allerdings wusste ich nicht, wie man die Dinger nannte. Der Raum wurde von einigen hohen mit Gold verzierten Säulen aus weißem Marmor unterteilt. Einige Leute saßen tatsächlich in kleinen Gruppen vor den Fenstern, an denen kostbare Vorhänge mit Fransen hingen. Joseph Murphy oder ein anderes Mitglied der Familie hatte ich noch immer nicht gesehen. Vielleicht waren sie ja nach Hause gefahren, weil sie keine Lust auf diese Sause hatten.
Wir machten uns auf den Weg zum Esszimmer, das sich, wie Black wusste, hinter der Great Hall befand. Offenbar waren wir hier richtig. Der Raum war riesengroß, blau ausgestattet und ebenfalls ein Meer aus Kronleuchtern und Spiegeln. Außerdem gab es hier ein Büffet, das sich nur so unter den erlesensten Speisen bog. »Ich habe Hunger«, sagte Black. »Komm, wir stellen uns an.«
Herrje, Black wurde in Sachen Essen allmählich so schlimm wie Bud. Vielleicht hatte ich ja diese Wirkung auf Männer, die sich zu lange in meiner Gegenwart aufhielten. Doch offen gestanden konnte ich auch einen Happen vertragen. Ich hatte weder gefrühstückt noch zu Mittag gegessen und am Vortag auch das Abendessen ausfallen lassen. Also griff ich nach einem der schicken rotweißen Teller und folgte einer Gruppe von vier Verwaltungsassistentinnen um den Büffettisch. Sie tuschelten miteinander, weshalb ich versuchte, sie zu belauschen, da Sekretärinnen normalerweise die schmutzigen Geheimnisse sämtlicher Kollegen kennen, mag es nun in einer Behörde, in der Privatwirtschaft oder im Büro des Sheriffs sein. Und außerdem erfuhren sie natürlich immer alles zuerst.
»Der arme Joseph«, sagte eine von ihnen. »Er kommt einfach nicht darüber hinweg.«
»Ja.« Ihre Freundin senkte die Stimme, worauf ich erst richtig die Ohren spitzte. »Aber hast du Mary Fern gesehen? Sie hat keine einzige Träne vergossen.«
»Jeder trauert auf seine Weise«, meinte die dritte, die offenbar verständnisvoller war. Eine wie sie gibt es in jeder Gruppe. Vermutlich kannte sie Mary Fern nicht persönlich. »Schließlich war Mikey nicht ihr leiblicher Sohn und hat der Familie viel Ärger gemacht.«
Ich erinnerte mich, dass Happy Pete in Oak Haven auch etwas in dieser Richtung erwähnt hatte. Vielleicht erklärte das ja ihre Gefühlskälte. Im nächsten Moment jedoch fragte ich mich, ob nicht auch noch andere Kinder der Murphys nicht Mary Ferns leiblicher Nachwuchs waren. Oder war Mikey ihr
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