Das Böse in dir
diesen Vorwurf abstreiten würde.
»Ganz und gar nicht.« Mir war klar, dass sie das auf verschiedene Weise verstehen konnte, und hoffte, dass sie es auf die schlimmstmögliche tat.
»Ich weiß, dass Sie mich nicht mögen.«
Hey, hatte sie das nicht gerade schon einmal gesagt? »Meine persönliche Meinung zu Ihrer Person ist hier nicht das Thema, Mrs Murphy. Ich will herausfinden, wer Ihren Sohn umgebracht hat und warum, denn ich habe den Verdacht, dass er unter der Brücke nicht allein war.«
»Stiefsohn«, verbesserte sie mich rasch.
Nun verriet sie es mir. Und leider hatte sie nichts zu meiner Theorie zu sagen, dass Mikey womöglich ermordet worden war. »Ja, es ist mir bekannt, dass Mikey nicht Ihr leiblicher Sohn war.«
Mary Fern betrachtete ihre Hände. Sie hatte lange Finger mit perfekt manikürten, perlrosa lackierten Nägeln. Ich fragte mich, ob sie echt oder in einem professionellen Nagelstudio aufgeklebt worden waren, und tippte auf Letzteres. Ihre große Armbanduhr hatte ein schwarzes Zifferblatt und ein schwarzes Lederband. An ihrer Hand prangten Verlobungsring und Ehering mit riesigen Diamanten, die im Schein des Kronleuchters funkelten. Allerdings trug sie keinen anderen Schmuck, nicht einmal Ohrringe. Ihre Ohrläppchen waren auch nicht durchstochen. Ihr Haar sah fantastisch aus, wundervoll gestuft, makellos geschnitten, jedes einzelne Härchen an seinem Platz, und das ganze mit fachmännisch colorierten Strähnchen.
»Ich habe ihm alle Möglichkeiten gegeben, Detective.«
»Was meinen Sie mit Möglichkeiten?«
»Ein Mitglied unserer Familie zu sein. Sich unter die anderen Kinder einzufügen.«
»Ich verstehe.« Ich holte Block und Stift heraus und legte sie auf den Tisch, was mir ein oder zwei Sekunden Zeit gab, um mir zu überlegen, wie ich sie am besten zur Strecke bringen konnte. »Und offenbar ist ihm das nicht zu Ihrer Zufriedenheit gelungen.«
»Er war ein seltsamer Junge, vermutlich von allen möglichen Dämonen getrieben, einfach ein Außenseiter, bei dem mir nicht wohl war.«
»Warum war Ihnen nicht wohl?«
»Er hat sich merkwürdig verhalten und Menschen absichtlich verletzt. Außerdem hatte er einen schlechten Einfluss auf meine eigenen Kinder.«
»Wie viele sind Ihre?«
»Die drei jüngsten. Die anderen drei sind die von Joseph und seiner ersten Frau. Plus Mikey.«
Der arme Mikey. Selbst jetzt war er nur ein Anhängsel.
»Hat eines Ihrer anderen Stiefkinder Sie je enttäuscht?«
»Nein, keines von Ihnen benimmt sich so daneben wie Mikey.«
»Sie sagen, er habe einen schlechten Einfluss gehabt. Wie das?«
»Er hat ihnen in jeder Hinsicht ein negatives Beispiel gegeben. Außerdem hat er ihnen wehgetan.«
»Meinen Sie das körperlich?«
»Manchmal, aber er hat immer einen Unfall vorgeschützt. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich jetzt, wo Mikey tot ist, so über ihn rede, doch ich kann nicht anders. Wenn Sie die Wahrheit hören wollen, sage ich sie Ihnen. Ich konnte ihn nicht ausstehen, Detective, wirklich nicht. So offen durfte ich nicht sein, solange mein Mann daneben saß und jedes Wort mithörte. Er hat diesen Jungen geliebt und alles Menschenmögliche getan, damit er endlich erwachsen und vernünftig wurde. Doch es war vergeblich.«
Ich beobachtete ihre Mimik. Inzwischen waren ihr tatsächlich Gefühle anzumerken. Ein Fortschritt. »Ist es zwischen Ihnen und Mikey zu offenen Feindseligkeiten gekommen?«
»Manchmal ließ es sich einfach nicht vermeiden. Er war für mich ein Ärgernis, seit ich Joseph geheiratet habe. Wie ein Dorn in meinem Fleisch, den ich einfach nicht loswerden konnte.«
Eine nette Beschreibung für das eigene Kind. So würde Mary Fern niemals einen Orden als »Mutter des Jahres« bekommen. »Ist Mikey je ernsthaft in Schwierigkeiten geraten?«
Mary Fern bedachte mich mit einem Blick, den man nur als herablassend und spöttisch bezeichnen konnte. »Sein Vater hat es jedes Mal geschafft, ihn rauszupauken.«
»Und dabei ging es um …?«
»Tja, einmal hat er einer meiner Freundinnen Geld gestohlen, als wir bei ihnen zum Essen eingeladen waren. Georgias Mann hat ihn dabei ertappt, wie er im Schlafzimmer die Kommodenschubladen durchwühlt hat.«
»Wurde die Polizei verständigt?«
»Nein, Joseph hat alles geregelt. Er hat die Wogen geglättet und es auf Mikeys Trennung von seiner Freundin geschoben. Damals haben wir ihn endlich davon überzeugen können, nach Oak Haven zu gehen.«
»Und dort hat sich sein Zustand gebessert?«
»Ja, es
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