Das Böse in dir
was die Sicherheit ihrer Kinder anging, nämlich richtiggehend paranoid. Die Kleinen jammerten ständig, doch ihn störte es nicht sehr. Er hatte ja seinen Ohrhörer und einen iPod und sich Hunderte von Stücken heruntergeladen, die er mochte. Also konnte er die ganze Zeit Musik hören.
Der Junge liebte Musik. Am besten gefiel ihm eine Rockband aus Deutschland, und zwar wegen ihrer düsteren, gruseligen Texte. Das war genau sein Stil. Außerdem las er viel. Er interessierte sich für Erdkunde und erfuhr gern etwas über andere Länder und Kulturen und dafür, wie die Menschen dort lebten. Er lernte überhaupt gern etwas Neues. Sein Dad sagte, er habe ein fotografisches Gedächtnis, und damit hatte er voll und ganz recht. Der Junge musste etwas nur ein einziges Mal lesen, damit es sich für immer in sein Gedächtnis einbrannte. Dann konnte er es beinahe wörtlich zitieren. In Sachen Klugheit konnte ihm keiner ein X für ein U vormachen.
Heute stand ein Ausflug in den Grand Canyon auf dem Programm, weil sein Dad und seine Mom Freude am Wandern und an der idyllischen Landschaft hatten. Der Junge war sehr beeindruckt. Sein Dad hatte Fahrkarten für einen coolen altmodischen Zug besorgt, der sie von ihrem Hotel in Phoenix bis in den Grand Canyon brachte. Das Hotel selbst war alt und schick und hieß The Biltmore. Im Moment stapften sie mit einigen anderen Leuten einen der steilen, staubigen Wege im Canyon hinunter. Es war wirklich ein toller Anblick, die vielen senkrecht abfallenden Felswände und schroffen Klippen, die in der hellen Sonne leuchteten und wunderschöne Querstreifen in den verschiedensten Rot-, Gelb- und Kupfertönen hatten. Ganz, ganz unten am Boden der Schlucht, konnte er den Colorado River erkennen, der im Sonnenlicht funkelte wie ein silbernes Band. Er fand es großartig hier. Seine Eltern hatten sich ausnahmsweise einen echt tollen Urlaubsort ausgesucht.
Aufmerksam lauschte er dem Fremdenführer, als dieser von der Geschichte des Grand Canyon erzählte. Allerdings blieb er mit seiner Mutter ein Stück hinter der Gruppe zurück, denn er machte sich ein wenig Sorgen um ihre Gesundheit. Eigentlich war sie ziemlich sportlich, vermutlich hatte er das von ihr, war aber nach der Geburt vor wenigen Monaten noch ein wenig geschwächt und musste häufig stehen bleiben, um sich auszuruhen. Da er befürchtete, sie könnte schlappmachen und sie zu einer vorzeitigen Umkehr zwingen, beschloss er, ihr zu helfen.
»Hey, Mom, soll ich Destiny ein Stück tragen? Ich merke dir an, dass du müde bist. Sie ist bestimmt schwer.«
»Schon gut, Schatz. Ich trage sie gern. Ich brauche nur eine kleine Pause.«
Seine Mom setzte sich in den Schatten eines struppigen kleinen Nadelbaums, der seitlich aus der Felswand wuchs. Sein Dad war bereits zehn oder fünfzehn Meter weiter den gewundenen Pfad hinuntergegangen, der gefährlich nah an der Felskante verlief. Der Sohn rief ihm nach.
»Hey, Dad, Mom muss sich kurz hinsetzen und ausruhen. Wir kommen gleich.«
»Alles in Ordnung, Schatz?«, erwiderte sein Vater.
»Bestens. Geht nur weiter. Aber pass auf, dass die Kinder vom Geländer wegbleiben.«
Der Junge nahm eine Flasche Ozarka-Wasser aus dem Rucksack und reichte sie seiner Mutter. Während sie die Flasche öffnete und sie ziemlich schnell etwa zur Hälfte austrank, stand er da und blickte über den gewaltigen, von Wind und Wasser in den Stein gegrabenen Canyon hinaus, voller Staunen darüber, wie tief und wie wunderschön er war. Es raubte ihm fast den Atem. Seine Mutter stellte die Flasche weg und säuselte das Baby an, das wie immer schrie und zappelte.
»Danke, dass du gewartet hast, Liebling. Du warst mir in diesem Urlaub wirklich eine große Hilfe«, sagte sie.
»Ja, schon gut«, erwiderte er.
Sie fingen beide an zu lachen, und dann lächelte sie ihm liebevoll zu. Er beobachtete sie, während sie sich mit dem quengelnden Baby beschäftigte. Sie trug das Kind in einer Stoffschlinge dicht vor der Brust. Es schien zu schwitzen, und ihr ging es offenbar nicht anders. Ihr Gesicht war von der Hitze und der anstrengenden Wanderung in ihrem geschwächten Zustand gerötet. Außerdem hatte sie in der Nacht kaum geschlafen, weil das Baby Koliken hatte, und nun waren ihre Augen blutunterlaufen vor Übermüdung. Neugeborene waren wirklich eine Landplage.
»Gib sie mir, Mom, ich halte sie einen Moment. Du schwitzt ja total.«
»Sie hat nur Hunger. Siehst du Leute kommen?«
Er warf einen Blick auf den Pfad hinter ihnen.
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