Das Böse in dir
»Nein, wir sind die letzten. Die nächste Gruppe ist erst in einer Dreiviertelstunde hier.«
»Dann stille ich sie jetzt, wenn ich schon einmal sitze. So ist sie auf dem Rückweg wenigstens ruhig.«
»Okay.«
Der Sohn sah zu, wie sie ihre ärmellose weiße Bluse und ihren Spezial-BH öffnete und dem Baby die Brust in den Mund steckte. Das Kind schnappte nach der Brustwarze und fing wie wild zu saugen an. Angewidert wandte er sich ab. Es war so ekelhaft, dass ihm ganz flau im Magen wurde. Er konnte nicht begreifen, warum seine Mom so etwas tat, und noch dazu in aller Öffentlichkeit und am helllichten Tag. Wieder schaute er in beide Richtungen, erleichtert, dass niemand in Sicht war. Dann setzte er sich hin, betrachtete das Panorama und wünschte, sie würde endlich mit dieser fiesen Stillerei aufhören.
»Geh nicht zu nah an die Kante, Schatz«, sagte seine Mom.
»Ich passe schon auf.«
»Macht dir der Urlaub Spaß?«, fragte seine Mom, die noch immer im Schatten des kleinen Baumes saß und Destiny stillte.
»Na klar.«
»Du wirkst in letzter Zeit so bedrückt. Seit ein paar Tagen bist du ziemlich ruhig.«
»Ich höre nur meine Musik.«
»Was hörst du denn so?«
»Marilyn Manson. Den finde ich spitze. Heute habe ich ihn auch gehört.«
»Ich bin froh, dass wir dir den iPod gekauft haben. Du scheinst ihn ja häufig zu benutzen.«
»Ja.«
Der Sohn sah seine Mutter an. »Komm, Mom, lass sie mich für eine Weile halten. Ich möchte es wirklich gern. Das Ding, das du da umhast, ist bestimmt sehr warm. Du schwitzt sicher.«
Seine Mom lachte wieder auf. »Stimmt. Sie fühlt sich an, als hätte ich eine kleine Heizung dabei.«
Er ging zu ihr hinüber und wartete, bis sie die Schlinge über den Kopf gezogen hatte. Dann nahm er das winzige Baby und hielt es in einem Arm. Es war etwa so groß wie ein Bernhardinerwelpe und wog vermutlich noch keine sechs Kilo. Inzwischen hatte Destiny sich beruhigt und sah ihn aus dunkelblauen Augen unbewegt an.
Während seine Mutter sich an den Felsen lehnte und die Augen schloss, betrachtete er das Gesicht des Babys. Destiny sah Lyla nicht sehr ähnlich, aber er fand sie trotzdem recht niedlich. Sie hatte dunklere Haare, doch das war noch nicht richtig festzustellen, weil für ihn alle Babys einander ähnelten. Bis jetzt hatte er kaum auf sie geachtet. Eigentlich war sie ja zu nichts zu gebrauchen, obwohl es spannend war, wie Menschen einfach so aus kleinen Klümpchen entstanden und irgendwann so groß, stark und sportlich wurden wie er.
Inzwischen döste seine Mom vor sich hin. Also hatte Destiny sie wirklich angestrengt. Er ging zur Felskante und schaute auf das prächtige, in die Erde gefurchte Loch hinein. Dann hielt er das Baby hoch, damit es die hübschen Farben bewundern konnte. »Schau mal, Destiny, das ist der Grand Canyon. Siehst du das winzig kleine Band da unten. Das ist der Fluss, der ihn gegraben hat. Das hat Millionen von Jahren gedauert.«
Das Baby gurgelte ein bisschen und ruderte mit den winzigen Ärmchen. Er warf einen Blick auf seine Mom. Inzwischen lag sie auf dem Boden und bedeckte die Augen mit dem Unterarm. Wem wollte sie etwas vormachen? Sie war total übermüdet. Noch ein Baby zu kriegen, hatte ihr offenbar den Rest gegeben. Plötzlich hatte er den Einfall, das strampelnde Baby übers Geländer zu halten, um festzustellen, ob es wusste, dass es Angst haben musste. Doch das Baby verharrte nur in seiner Hand und schaute sich um. Es beruhigte sich sogar ein wenig. Offenbar war es ein ziemlich dummes kleines Ding. Wenn er nur eine Sekunde locker ließ, würde es schnurstracks in die Tiefe stürzen. Weil es so klein war, konnte er es vermutlich sogar gezielt über die Kante schleudern wie einen perfekt geworfenen Football. Mann, bis nach unten waren es schätzungsweise siebzig Meter. Wahrscheinlich würde es schon beim ersten Aufprall gegen die scharfkantigen Felsen sterben.
»Oh, mein Gott, was tust du da?«
Inzwischen war seine Mom wach. Sie sprang auf und stürzte auf ihn zu. Er brachte das Baby in Sicherheit und reichte es ihr, froh, es los zu sein. Seine Mom griff danach und sah ihn entsetzt an.
»Bist du wahnsinnig? Was hast du dir dabei gedacht? Du hättest sie fallen lassen können!«
Er fand, dass seine Mom ein wenig überreagierte, doch schließlich war sie die Mutter und wusste nicht, wie fest sein Griff um das Baby gewesen war. Er hätte noch zehn oder fünfzehn Minuten länger durchgehalten, bevor er hätte loslassen müssen. So
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