Das Böse in dir
eher nicht, dachte Tee. Denn der Arzt war viel zu spät dran, um noch etwas tun zu können. Widerstrebend folgte er der Anweisung. Allerdings verstand er die Welt nicht mehr. Warum hatte die blöde Kuh sich bloß die Pulsadern aufgeschnitten? Das mit ihnen beiden vorhin im Schuppen war doch wirklich nicht so schlimm gewesen. Ach, herrje, so was nannte man wohl eine Überreaktion. Und dabei wusste er genau, dass sie genauso viel Spaß gehabt hatte wie er. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass da nirgendwo ein Abschiedsbrief war, in dem sie ihn belastete. Dieser Gedanke sorgte dafür, dass Angst in ihm aufstieg, und er kam zu dem Schluss, dass es in seinem besten Interesse lag, das herauszufinden. Und zwar schnell.
Tee wusste, wo Lotus’ Zimmer war, denn das hatte er schon am Tag ihrer ersten Begegnung in Erfahrung gebracht. Sie hatte inzwischen ein Einzelzimmer, weil ihre Mitbewohnerin vor Kurzem entlassen worden war. Eigentlich hatte er vorgehabt, dort mit ihr zu schlafen, ein Gedanke, den er rasch wieder verworfen hatte. Man brauchte sich nur anzuschauen, welche Folgen ein einziger Schrei gehabt hatte, als die Schwester die Leiche fand. Während Tee so unauffällig wie möglich sein Ziel ansteuerte, wurden die anderen zurück in ihre Zimmer getrieben und erhielten Befehl, dort zu bleiben. In der Ferne hörte er bereits das Schrillen einer Sirene, das sich stetig näherte.
Tee schlüpfte ins Zimmer, fand die Sachen, die sie auf dem Tennisplatz getragen hatte, verstreut auf dem Boden und stopfte sie rasch unter sein Pyjamaoberteil. Er war zwar kein Fachmann für Spurensicherung, hatte aber in Sendungen wie The First 48 auf A&E von DNA und Vergewaltigungs-Testsets gehört. Niemand durfte wissen, dass er zuletzt mit ihr zusammen gewesen war. Das kam überhaupt nicht in Frage. Als er sich nach einem Abschiedsbrief umsah, fand er einen auf ihrem Kissen und steckte ihn zu den schmutzigen Kleidern.
Dann wartete er ab, bis einige Sanitäter mit einem Rollwagen den Flur entlangeilten, und nutzte das dadurch entstehende Durcheinander, um unbemerkt in seinem Zimmer zu verschwinden. Da von Buddy jede Spur fehlte, entfaltete Tee Lotus’ Abschiedsbrief und las ihn lautlos:
Lebt wohl. Es hört einfach nicht auf. Niemals. Ich halte es nicht mehr aus. Yang Wei, ich liebe Dich, und es tut mir leid.
Mehr stand nicht auf dem Zettel, und es war viel zu vage, um Schlüsse daraus zu ziehen. Tee ging wieder zur Tür und traf Buddy ein paar Meter weiter auf dem Flur. Er heulte wie ein Schlosshund. »Sie ist tot. Tot. Sie können sie nicht wiederbeleben.«
Tee begleitete Buddy zurück in ihr Zimmer und sah zu, wie er aufs Bett fiel und weinte, als hätte er gerade eine beste Freundin verloren. Dieser Junge war ein schrecklicher Waschlappen. Das Mädchen hatte die Entscheidung selbst gefällt. Niemand anderer. Also war es ganz allein ihre Schuld. Ganz sicher nicht die von Tee. Er würde sich wegen einer Sache, die sie sich selbst angetan hatte, kein schlechtes Gewissen einreden.
In den nächsten Wochen spielte Tee den Klinikalltag mit und achtete darauf, sich bei allen beliebt zu machen, damit ja niemand den Verdacht bekam, er könnte in Lotus’ Selbstmord verwickelt sein. Es war wirklich total einfach, auch wenn ihn Lotus’ Tod manchmal beschäftigte. Yang Wei war verschwunden, kam nicht zurück, und niemand wusste, wo er steckte. Die überstürzte Tat des Mädchens faszinierte Tee immer mehr. Nun war er an einem echten Selbstmord beteiligt, keinem, den er hatte erfinden müssen, um die von ihm verursachten »Unfälle« in seiner Familie zu tarnen.
Er kam zu dem Schluss, dass nur ein gründlicher Blick in ihre Krankenakte ihm verraten würde, was die dumme Pute dazu getrieben hatte, sich das Leben zu nehmen, und schmiedete entsprechende Pläne. Inzwischen fraß Buddy ihm aus der Hand. Buddy liebte Tee so abgöttisch, dass einem davon fast schlecht werden konnte, und überschlug sich fast vor Begeisterung, weil er nicht nur der Zimmergenosse, sondern auch noch der ständige Begleiter des beliebtesten Jungen in der Klinik war. Wenn Tee Buddy anwies, den Mund zu halten, tat er das widerspruchslos, was die Dinge sehr vereinfachte.
Und so trafen sie eine Vereinbarung. Buddy würde Schmiere stehen und hatte die Aufgabe, die Schwestern abzulenken, während Tee sich in den Bürotrakt schlich. Insbesondere auf die eine namens Maggie musste man aufpassen, denn sie hasste Tee seit dem ersten Tag. Dieser Teil des Plans klappte wie am
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