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Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Das Böse kommt auf leisen Sohlen

Titel: Das Böse kommt auf leisen Sohlen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ray Bradbury
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Augenblick schlenderten sie nur so dahin, die Hände in den Hosentaschen, und dachten an die erschreckenden Rätsel, die der gestrige Tag ihnen aufgegeben hatte. Jim unterbrach schließlich das Schweigen. 
    "Gestern abend, nachdem wir das Dach gewaschen hatten und ich endlich einschlief, da träumte ich von einer Beerdigung. Die Leute kamen die Hauptstraße entlang wie zu einem Besuch." 
    "Oder vielleicht – zu einer Parade?" 
    "Genau! Tausend Leute, alle in schwarzen Mänteln, schwarzen Hüten, schwarzen Schuhen, und ein Sarg, mindestens fünfzehn Meter lang." 
    "Schauderhaft!" 
    "Wirklich! Gibt es etwas, das fünfzehn Meter lang ist und das man begraben muß, dachte ich, und dann lief ich im Traum hin und schaute nach. – Lach nicht!" 
    "Mir kommt das gar nicht komisch vor, Jim." 
    "In dem langen Sarg lag ein großes verrunzeltes Ding wie eine Pflaume oder eine riesige Weintraube, die in der Sonne gelegen hat. Wie eine gewaltige Haut oder der sterbende Kopf eines Riesen." 
    "Der Ballon!" 
    "He!" Jim blieb stehen. "Du mußt auch geträumt haben! Aber – Ballons können doch nicht sterben, oder?" 
    Will schwieg. 
    "Und man veranstaltet für sie doch keine Beerdigung, oder?" 
    "Jim, ich..." 
    "Der verflixte Ballon hat dagelegen wie ein Pferd, aus dem jemand die Luft abgelassen hat..," 
    "Jim, letzte Nacht..." 
    "Schwarze Federn wehten, die Musiker trommelten mit großen schwarzen Knochen auf großen gedämpften, schwarzsamtenen Trommeln – Junge, Junge! Und zu allem muß ich dann heute früh aufstehen und Mom alles sagen. Nun, alles nicht, aber immer noch genug, daß sie ein bißchen geschrien hat und dann noch'n bißchen. 
    Frauen können wirklich schreien, wie? Sie hat mich ihren kriminell veranlagten Sohn genannt, aber – wir haben doch nichts Böses getan, oder?" 
    "Jemand ist beinahe auf dem Karussell gefahren." 
    Jim ging im Regen weiter. "Ich glaube, davon hab ich jetzt genug." 
    "Du glaubst? Nach allem, was gewesen ist? Mein Gott, nun will ich dir was sagen! Die Hexe, Jim, und der Ballon. Letzte Nacht, ich war ganz allein..." 
    Aber er hatte keine Zeit, ihm alles zu erzählen. 
    Keine Zeit, ihm zu berichten, wie er den Ballon durchlöchert hatte, bis er davonwirbelte, um einsam irgendwo auf dem Land zu sterben und im Sinken die alte Frau mit in die Tiefe zu reißen. 
    Keine Zeit, denn wie sie so durch den Regen gingen, hörten sie ein traurig klingendes Geräusch. 
    Sie kamen an einem unbebauten Grundstück vorbei, auf dem weit von der Straße entfernt eine gewaltige Eiche stand. Darunter lagen regennasse Schatten, und genau daher kam das Geräusch. 
    "Jim", sagte Will. "Da weint jemand." 
    "Nein." Jim ging weiter. 
    "Dort ist ein kleines Mädchen." 
    "Nein." Jim wollte nicht hinsehen. "Was sollte ein Mädchen bei dem Regen unter dem Baum machen? Komm weiter!" 
    "Jim! Du hörst das doch auch!" 
    "Nein. Ich höre nichts. Gar nichts!" 
    Aber dann wurde das Weinen lauter. Es wehte herüber über totes Gras, flatterte wie ein trauriger Vogel durch den Regen, und Jim mußte sich umwenden, denn Will marschierte schon quer über den Schutt des verlassenen Grundstücks.
    "Jim – die Stimme – die kenn ich doch." 
    "Will, geh nicht hin!" 
    Und Jim regte sich nicht. Aber Will stolperte weiter, bis er unter den Schatten des tropfenden Baumes trat, wo der Himmel niederregnete und sich in Herbstlaub verlor, wo er schließlich in schimmernden Striemen an Zweigen und Stamm herunterrieselte. Dort kauerte ein kleines Mädchen, das Gesicht in ihren Händen, und sie weinte, als sei die Stadt vom Erdboden verschwunden, mitsamt allen Menschen, und als hätte sie sich im furchtbaren Wald verirrt. 
    Endlich schob sich auch Jim heran, blieb am Rand der Schatten stehen und fragte: "Wer ist es denn?" 
    "Das weiß ich nicht." Doch Will spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. Etwas in ihm ahnte es. 
    "Das ist doch nicht etwa Jenny Holdridge, wie?" 
    "Nein."
    "Jane Franklin?" 
    "Nein." Seine Zunge war wie betäubt, sie bewegte sich mühsam zwischen gefühllosen Lippen. "Nein..." 
    Das kleine Mädchen weinte, fühlte die Nähe der beiden Jungen, blickte aber nicht auf. 
    "Ich... ich... helft mir doch... keiner... keiner will mir helfen. Mir... mir... ich mag das nicht..." 
    Als sie dann ihre Kräfte sammelte, sich etwas beruhigt hatte und das Gesicht hob, waren ihre Augen vom Weinen ganz verschwollen. Sie erschrak, als sie

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