Das böse Spiel der Natalie Hargrove (German Edition)
entsorgen, stand Kate auf und beugte sich über mich. Seit sie mir am Montag das mit Baxter erzählt hatte, hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie. »Du wirkst ein bisschen …«
»Ich bin nur nervös«, erwiderte ich. »Wegen der Dankesrede.«
»Natürlich«, nickte sie – obwohl sie dabei gewesen war, als ich letztes Jahr die Finalisten des Rhetorik-Turniers an der Palmetto verbal vernichtet hatte. Öffentliche Reden waren eine meiner größten Stärken. Und so musste es auch sein: Als Palmetto-Prinzessin würde ich die offizielle Stimme am Mikrofon jeder Auftaktparty und der anschließenden Siegesfeier im ganzen nächsten Jahr sein.
Während ich im Spiegel zusah, wie Kate letzte lose Haarsträhnen feststeckte, wurde mir klar, dass sie genau wusste, dass es nicht die Rede war, die mich nervös machte. Sie wusste, dass ich meine Krönungsrede bereits im letzten Jahr um diese Zeit fertig ausgearbeitet hatte, als Marc Wise und Sadie Hoagland die Krone übernahmen. Ich konnte sie auswendig, von der Stolz-von-Charleston-Thematik hinter unserer Kampagne bis zu den Danksagungen und in welcher Reihenfolge sie erfolgen mussten. Nicht die Rede war es, die mich durcheinanderbrachte, es war der Albtraum, den ich von der Kutschfahrt gehabt hatte.
»Oh«, unterbrach Kate meine Gedanken. »Deine Mom ist vorbeigekommen und hat das hier mitgebracht.« Sie öffnete einen knallig orangefarbenen Lippenstift, den meine Mutter mir aufzuzwingen versuchte, seit sie mich für das Klaviervorspiel in der vierten Klasse zum ersten Mal geschminkt hatte. Eine Farbe, die sie nur ihren Leichen widerspruchslos auftragen konnte. Ich schauderte.
»So sehe ich das auch«, sagte Kate und zog einen weit weniger schrecklichen rosa schimmernden Lippenstift hervor. Sie zeigte mir die Aufschrift unten auf der Hülse.
»Siehst du das?«, fragte sie.
Die Farbe hieß Prinzessin .
Aber als sie mir den Lippenstift auftrug und mir ein Taschentuch gab, um die überschüssige Farbe abzutupfen, musste ich daran denken, wie ich J. B.s Mund mit Lippenstift bemalt hatte.
Mir wurde urplötzlich eiskalt.
Der Lippenstift. Die gefesselten Hände. Die Pillenflasche.
»Die Kutsche!«, riefen die Bambis auf einmal, und alle rannten zum Fenster. »Die Kutsche ist da! Sie steht draußen!«
»Sag mir, dass du das Vanille-Massageöl dabeihast, wie ich es dir geraten habe«, sagte Amy Jane, die meiner Hochsteckfrisur noch ein paar Spritzer Haarspray verpasste.
Doch in der Vorstellung, die ich verzweifelt aus meinen Gedanken zu verbannen versuchte, kam kein Massageöl vor. Sie zeigte nur J. B.s blaue Lippen und die eisige Kälte, die ich gespürt hatte, als er in meinem Traum die Augen geschlossen hatte.
Kleine Planänderung , hatte er gesagt.
Ich musste zur richtigen Kutsche hinaus, um mir zu beweisen, dass es nur ein Albtraum gewesen war. Ich musste zu Mike und etwas Abstand von meiner J. B.-Paranoia bekommen. Doch als ich aufstand, gerade in dem Augenblick, als ich Stärke zeigen sollte, wankte ich auf meinen hohen Sling-Pumps und fiel wieder auf den Hocker vor dem Toilettentisch.
»Jesus, Nat, du bist ja weiß wie ein Geist! Mehr Rouge!«, befahl Amy Jane und rief nach Verstärkung. »Was ist los, Liebes? Sag es uns!«
»Ich hab vergessen, es loszuwerden«, murmelte ich und dachte an das Pillenfläschchen, das immer noch in der Innentasche meines Rucksacks steckte. »Mike hat gesagt, ich soll es loswerden, und ich hab es vergessen.«
»Wovon redet sie?«, flüsterte Jenny Amy Jane zu. »Ich verstehe kein Wort.«
»Oh mein Gott«, entfuhr es Amy Jane, »wolltet ihr beide in der Kutsche etwa deine Entjungferung nachspielen? Ihr seid echt krass!«
Bevor ich noch etwas sagen konnte, um davon abzulenken, was ich gerade über die Pillen gestammelt hatte, hatten mir meine Hofdamen schon wieder auf die Füße geholfen. Gleich darauf brachten sie mich zur Tür und führten mich zur Kutsche. Mir fiel auf, dass Kate zurückblieb.
»Mach dich nicht verrückt«, riet mir Jenny und sah mir in die Augen. »Du und Mike, ihr seid das wahre Prinzenpaar. Ihr müsst da draußen keinen Schulrekord brechen. Sei einfach du selbst.«
Amy Jane steckte mir etwas in die Hand. In Form und Größe ähnelte es dem Pillenfläschchen, aber als ich hinabsah …
»Ich wusste doch, dass du das Massageöl vergessen würdest«, lachte sie. »Aber ich habe immer eines in Reserve.«
Langsam ging ich auf die Kutsche zu. Sie war nicht annähernd
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