Das böse Spiel der Natalie Hargrove (German Edition)
Dann steckte er sie in die Innentasche seines Jacketts und zog eine vollgekritzelte Serviette hervor. Ich wollte sie ihm wegnehmen, aber er umklammerte meine Hand so fest, dass ich eine Szene hätte machen müssen, um sie an mich nehmen zu können.
»Ihr alle habt schon viele dieser Dankesreden gehört«, begann Mike und deutete hinter uns, wo die ehemaligen Prinzenpaare des Palmetto-Hofes standen. »Einige von euch haben sie selbst schon gehalten. Ihr kennt also alle das Prozedere, und ihr wisst, wie dankbar und wie aufgeregt Natalie und ich sind, diese Ehre annehmen zu dürfen.« Er ließ seinen Blick über die Menge schweifen und drückte meine Hand noch fester. »Aber heute geht es um etwas anderes, und es wäre falsch, über den Verlust eines guten Freundes und eines großartigen Menschen hinwegzugehen.«
Tu das nicht, Mike, tu es nicht!
»Des Menschen, der Prinz hätte werden sollen«, fuhr Mike fort.
Nein, das ist nicht wahr.
»Anstelle unserer Dankesreden …«
Nein!
»… möchten Natalie und ich um einen Augenblick des stillen Gedenkens bitten und dann direkt zum Empfang gehen. Wir sehen uns alle morgen bei der Beerdigung.«
Ich machte den Mund auf, um etwas zu sagen, doch als ich Mike ansah, wurde mir klar: Alles, was ich so lange für die Palmetto-Krönung vorbereitet hatte, war umsonst gewesen.
10 Was schwarz im Sinn mir ruht
»Asche zu Asche, Staub zu Staub.«
Am Freitagnachmittag stand ich dicht neben Mike auf dem Friedhof hinter der Kirche, und die Wunde, die er mir geschlagen hatte, als er meine Krönungsrede vereitelt hatte, schmerzte immer noch heftig. Ich sah zu, wie die Sargträger J. B.s toten Körper in die Erde senkten.
»Immer wenn wir vor einem so tragischen und unglücklichen Verlust stehen«, dröhnte der selten düstere Reverend Clover durch das statische Rauschen seines Mikrofons, »gerät die Gemeinde in einen wahrhaftig krampfartigen Anfall von Trauer.«
Mein Kopf schoss in die Höhe. Bis hierher war die ganze Beerdigung eintönig und unauffällig gewesen. Clover war für seine schlechten Wortspiele während der Predigt berüchtigt. Sollte der Begriff »krampfartiger Anfall« tatsächlich eine Anspielung auf J. B.s Gesundheitszustand gewesen sein?
Doch dann fragte ich mich, ob außer Justins nächsten Angehörigen – und jetzt auch Mike und mir – überhaupt jemand etwas über diesen Gesundheitszustand gewusst hatte. Ich sah mich in der zu Boden blickenden, sich an den Händen haltenden Trauergemeinde um, doch ich konnte kein Erkennen in ihren Gesichtern feststellen. Ich dachte an Steph Merritt, die ihre Nase in einem Taschentuch vergraben und etwas von Pillen gefaselt hatte – aber es war offensichtlich, dass sie die Wahrheit nicht kannte. Ich verstand nicht, warum der Tod es mit sich brachte, dass all diese Leute am Grab eines Menschen weinten, den keiner von ihnen je richtig gekannt hatte.
Mein Blick fiel auf J. B.s älteren Bruder Tommy, der den Arm um die Schulter seiner weinenden Mutter gelegt hatte. Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, als würde er den Reverend wegen seiner Wortwahl böse ansehen, doch dann begann es wieder zu regnen, und um das Grab herum klappte ein Meer von schwarzen Regenschirmen auf. Der muffige Geruch von feuchtem Kunststoff überlagerte alles andere, und es war schwer, außer dem weißen Kirchturm, der hoch vor uns aufragte, überhaupt etwas zu erkennen.
Vor der Beerdigung hatte ich mir im Waschraum meinen Pferdeschwanz neu gebunden und war dort drei Bambis begegnet, die weinend zusammenstanden. Es waren dieselben Mädchen gewesen, die mir gestern zitternd vor Aufregung nachgesehen hatten, wie ich zur Kutsche gebracht wurde.
Ich hatte schon immer gewusst, dass Mädchen aus dem Süden den schlechten Ruf hatten, zu theatralisch zu sein, aber Palmetto hätte ein Patent auf eine ganz spezielle Art von Künstlichkeit anmelden können. Diese Mädchen konnten ihre Gefühle schneller wechseln als ihre Kleider und immer noch überzeugend wirken. Es kam nur auf die Bühne und auf das Publikum an, dem sie imponieren wollten.
Im Waschraum verdrehte ich die Augen, aber weniger wegen der Bambis, sondern weil ich es nicht schaffte, auch wenn ich es wollte, wegen J. B. zu weinen. Ich schaffte überhaupt wenig in diesen Tagen. Ich schaffte es nicht, diese unangenehme SMS meines Vaters zu beantworten, die noch immer in meinem mentalen Nachrichteneingang lauerte. Ich schaffte es noch nicht einmal, mich über meine Krönung zu freuen – obwohl
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