Das Bourne-Vermächtnis
Anomalie bewusst wahrzunehmen.
Er sah, was er gehofft hatte, nie sehen zu müssen: Fotos von seiner geliebten Frau Dao, Brust und Schultern von Kugeln durchsiebt, ihr Gesicht von traumatischen Wunden grotesk entstellt. Auf der zweiten Seite sah er ähnliche Fotos von Alyssa, deren armer Körper wegen seiner Verwundbarkeit, seiner geringeren Größe noch schlimmer zugerichtet war. Bourne saß vor Schmerz und Entsetzen wie gelähmt vor diesen Schreckensbildern. Aber er musste weitermachen. Noch eine Seite, noch ein Satz Fotos, um die Tragödie ganz zu erleben.
Bourne scrollte zur dritten Seite weiter und machte sich darauf gefasst, ähnliche Aufnahmen von Joshua zu sehen. Nur gab es keine.
Aus Verblüffung tat er einen Augenblick lang nichts.
Erst glaubte er an eine Computerpanne, durch die er unabsichtlich auf eine andere Archivseite geraten war. Aber nein, der Name stand da: Joshua Webb. Darunter folgten jedoch Angaben, die sich wie glühende Nadeln in sein Bewusstsein bohrten: »Drei Teile von Kleidungsstücken wie unten aufgeführt, ein Schuh (Sohle und Absatz fehlen), Fundort: zehn Meter von den Leichen von Dao und Alyssa Webb entfernt. Joshua Webb nach einstündiger Suche für tot erklärt. KLG.«
KLG . Die bei der Army übliche Abkürzung schrie ihn förmlich an. Keine Leiche gefunden. Bourne fühlte eine kalte Hand nach seinem Herzen greifen. Sie hatten eine Stunde nach Joshua gesucht – nur eine Stunde lang?
Und warum hatte ihm das niemand gesagt? Er hatte drei Särge beisetzen lassen, hatte, von Schmerz, Reue und Schuldgefühlen fast vernichtet, am Grab seiner Familie gestanden. Und die ganze Zeit über hatten sie’s gewusst, die Scheißkerle hatten’s gewusst. Er lehnte sich zurück.
Sein Gesicht war kreidebleich, seine Hände zitterten. In seinem Herzen wütete ein Zorn, den er nicht beherrschen konnte.
Er dachte an Joshua; er dachte an Chan.
Sein Intellekt stand in Flammen, wurde von der
schrecklichen Möglichkeit, die er verdrängt hatte, seit er den aus Stein geschnittenen Buddha an Chans Hals gesehen hatte, fast überwältigt. Was war, wenn Chan wirklich Joshua war? Dann war er eine Tötungsmaschine, ein Monster geworden. Bourne wusste nur allzu gut, wie leicht man in den Dschungeln Südostasiens den Verstand verlieren und zum Killer werden konnte. Aber es gab natürlich noch eine andere Möglichkeit, zu der sein Verstand logischerweise neigte und an die er sich klammerte: Die Verschwörung mit dem Ziel, Chan als seinen Joshua auszugeben, reichte erheblich weiter und war komplexer, als er ursprünglich geglaubt hatte. Dann waren alle diese Angaben gefälscht, und die Verschwörung reichte bis in höchste Regierungskreise hinein. Aber seine Konzentration auf die üblichen Verschwörungstheorien bewirkte seltsamerweise nur, dass er noch desorientierter wurde.
Vor seinem inneren Auge erschien Chan, der ihm den aus Stein geschnittenen Buddha hinhielt und dabei sagte:
»Den hast du mir geschenkt – ja, das hast du getan. Und dann hast du mich verlassen, damit ich im Dschungel …«
Bourne spürte plötzlich, dass ihm schlecht wurde, und als sein Magen wütend rebellierte, sprang er von seinem Platz vor dem Laptop auf, hastete, ohne auf die Schmerzen zu achten, durchs Wohnzimmer und lief ins Bad, wo er sich übergab, bis sein Magen restlos leer war.
Im Lageraum tief im Inneren der CIA-Zentrale griff der Offizier vom Dienst, der einen Bildschirm beobachtete, nach dem Telefon und wählte eine besondere Nummer. Er wartete einen Augenblick, bis eine Computerstimme »Sprechen Sie!« sagte. Der Wachhabende verlangte den Direktor. Seine Stimme wurde analysiert und mit dem Dienstplan verglichen. Erst dann wurde das Gespräch weitervermittelt, und eine Männerstimme sagte:
»Bitte warten Sie.« Im nächsten Augenblick meldete sich die unverkennbar knurrige Stimme des CIA-Direktors.
»Ich dachte, Sie sollten wissen, Sir, dass ein interner Alarm ausgelöst worden ist. Jemand hat den Firewall der Army geknackt und ihr Sterberegister nach folgenden Personen abgefragt: Dao Webb, Alyssa Webb, Joshua Webb.«
Darauf folgte eine kurze, unangenehme Pause. »Sagten Sie Webb? Sie wissen bestimmt, dass der Name Webb war?«
Der plötzliche Ernst im Tonfall des Direktors ließ dem jungen Offizier vom Dienst den Schweiß auf die Stirn treten. »Ja, Sir.«
»Wo befindet sich dieser Hacker?«
»In Budapest, Sir.«
»Hat das Alarmsystem funktioniert? Hat es die Absenderadresse ermittelt?«
»Ja, Sir. Nummer
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