Das Bourne-Vermächtnis
»Das sollten Sie sofort Ihrem Präsidenten melden, Boris.«
Der Russe stand auf und stemmte die Fäuste in die Hüften. »Eines wüsste ich gern: Wo ist Arsenow?«
»Ich fürchte, dass wir zu spät kommen«, flüsterte Chan hinter einem Metallpfeiler, als sie die Ankunft der beiden Sicherheitschefs beobachteten, »aber ich sehe Spalko nicht.«
»Vielleicht hat er das Risiko gescheut, selbst ins Hotel einzudringen«, meinte Bourne.
Chan schüttelte den Kopf. »Ich kenne ihn. Er ist ein Egoist und Perfektionist. Nein, er ist irgendwo in der Nähe.«
»Aber offenbar nicht hier«, sagte Bourne nachdenklich. Er beobachtete den Russen, der jetzt herangetrabt kam und sich zu Jamie Hull und dem arabischen Sicherheitschef gesellte. Irgendwie war ihm das breite, brutale Gesicht mit den starken Augenwülsten und den raupenartigen Brauen vage vertraut. Als er ihn dann reden hörte, sagte er leise: »Ich kenne diesen Mann – den Russen.«
»Das ist keine Überraschung. Ich erkenne ihn auch«, bestätigte Chan. »Boris Iljitsch Karpow, Kommandeur der Alpha-Einheit, der Elitetruppe des FSB.«
»Nein, ich meine, dass ich ihn kenne. «
»Wie? Woher?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Bourne. »Ist er Freund oder Feind?« Er schlug sich mit den Fäusten an die Stirn.
»Wenn ich mich nur erinnern könnte!«
Chan wandte sich ihm zu und erkannte deutlich, welche Qualen ihn peinigten. Er musste der gefährlichen Versuchung widerstehen, Bourne tröstend eine Hand auf die Schulter zu legen. Deswegen gefährlich, weil er nicht wusste, wohin diese Geste führen oder was sie überhaupt bedeuten würde. Er spürte den weiteren Zerfall seines Lebens, der begonnen hatte, als Bourne sich neben ihn gesetzt und ihn angesprochen hatte. »Wer bist du?« , hatte er gefragt. Damals hatte Chan die Antwort auf diese Frage gewusst; jetzt war er sich seiner Sache nicht mehr so sicher. War es möglich, dass alles, woran er geglaubt oder sich zu glauben eingebildet hatte, eine Lüge gewesen war?
Chan rettete sich vor diesen zutiefst verstörenden Gedanken, indem er sich daran klammerte, worauf Bourne und er sich am besten verstanden. »Dieser Gegenstand macht mir Sorgen«, sagte er. »Das Ding ist eine Zeitbombe. Aber du hast gesagt, dass Spalko vorhat, Schiffers Diffusor zu verwenden.«
Bourne nickte. »Ich würde sagen, das sei ein klassisches Ablenkungsmanöver, wenn wir nicht kurz nach Mitternacht hätten. Das Gipfeltreffen beginnt erst in knapp acht Stunden.«
»Darum haben sie eine Zeitbombe mitgebracht.«
»Ja, aber wieso sollte sie schon jetzt gelegt werden?«
»Weniger scharfe Kontrollen«, stellte Chan fest.
»Richtig, aber zugleich ist das Risiko größer, dass die Sicherheitskräfte sie bei einer ihrer regelmäßigen Durchsuchungen finden.« Bourne schüttelte den Kopf. »Nein, wir übersehen irgendwas, das weiß ich. Spalko hat etwas anderes vor. Aber was?«
Spalko, Sina und die restlichen Teammitglieder hatten ihr Ziel erreicht. Hier, weit von dem Flügel des Hotels mit dem Kongressforum entfernt, wies der Sicherheitskordon gewisse Lücken auf, die Spalko ausnützen konnte. Obwohl zahlreiche Sicherheitsbeamte im Einsatz waren, konnten sie nicht überall gleichzeitig sein, und so genügte es, zwei von ihnen auszuschalten, damit Spalko und sein Team in Position gelangen konnten.
Sie befanden sich drei Ebenen unterhalb der Straße in einem riesigen fensterlosen Raum mit Betonwänden und einer offen stehenden Brandschutztür. Unmengen von dicken schwarzen Rohren – jedes mit dem Gebäudeteil bezeichnet, den es versorgte – führten durch die Rückwand des Raums hinaus.
Alle Mitglieder des Teams packten jetzt ihre ABC-
Schutzanzüge aus, legten sie an und dichteten sie sorgfältig ab. Zwei der Tschetscheninnen traten auf den Korridor hinaus, um beiderseits des Eingangs Wache zu halten, und einer der Männer gab ihnen von innen Deckung.
Spalko öffnete den größeren der beiden mitgebrachten Metallbehälter, der den NX 20 enthielt. Er setzte die beiden Hälften sorgfältig zusammen und überzeugte sich davon, dass die Schnappverschlüsse sicher eingerastet waren. Dann durfte Sina den Diffusor halten, während er den Kühlbehälter aufsperrte, den er von Dr. Peter Sido bekommen hatte. Die darin liegende Glasphiole war klein, geradezu winzig. Auch nachdem sie ihre gewaltige Wirkung in Nairobi erlebt hatten, konnten sie kaum glauben, dass eine so geringe Menge des biologischen Kampfstoffes so vielen Menschen den Tod
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