Das Bourne-Vermächtnis
nicht hören wollte, was sein Stellvertreter zu berichten hatte. Lindros glaubte, der Direktor habe ihn wegen der Wichtigkeit der Ermordeten für die Agency an den Tatort entsandt. In gewisser Weise stimmte das sogar. Der wahre Grund war jedoch, dass der CIA-Direktor es nicht ertragen konnte, selbst hinauszufahren. Die Vorstellung, in Alex Conklins totes Gesicht blicken zu müssen, war zu viel für ihn. Er hockte auf einem Schemel in seiner Kellerwerkstatt: ein winziges, abgeschlossenes, pedantisch ordentliches Reich aus sorgfältig gestapelten Schubladen und exakt ausgerichteten Ablagefächern, eine eigene Welt, die für seine Frau – und für die Kinder, als sie noch zu Hause gewohnt hatten – tabu war.
Madeleine, seine Frau, steckte den Kopf durch die offene Kellertür. »Kurt, das Telefon«, sagte sie unnötigerweise.
Der Direktor nahm einen Arm aus der Holzkiste mit Soldatenteilen, studierte ihn. Seine weiße Mähne, die er aus der breiten, gewölbten Stirn zurückgekämmt trug, verlieh ihm das Aussehen eines Weisen, wenn nicht sogar eines Propheten. Die kalten blauen Augen wirkten so berechnend wie früher, aber die Falten an den Mundwinkeln waren tiefer geworden, sodass er ständig griesgrämig zu schmollen schien.
»Kurt, hast du gehört?«
»Ich bin nicht taub.« Die Finger am Ende des Arms waren leicht gekrümmt, als wolle die Hand nach etwas Unbekanntem greifen, das sich nicht genau benennen ließ.
»Also, gehst du jetzt ans Telefon oder nicht?«, rief Madeleine nach unten.
»Was ich tue, geht dich einen Dreck an!«, schrie er aufgebracht. »Geh endlich ins Bett!« Einen Augenblick später hörte er das befriedigende leise Scharren, mit dem die Kellertür sich schloss. Warum kann sie mich in solchen Zeiten nicht in Ruhe lassen?, fragte er sich erbost.
Nach dreißig Ehejahren müsste sie’s doch besser wissen.
Er machte sich wieder an die Arbeit, passte den Arm mit der gekrümmten Hand an die Schulter des Torsos an, Rot zu Rot, entschied sich für die endgültige Position. So ging der CIA-Direktor mit Situationen um, die sich seiner Kontrolle entzogen. Er spielte mit seinen Zinnsoldaten Gott, er kaufte sie, schnitt sie in Stücke und erweckte sie später zu neuem Leben, indem er sie in Stellungen zusammenlötete, die ihm gefielen. Hier, in seiner selbst geschaffenen Welt, hatte er alles und jeden unter Kontrolle.
Das Telefon klingelte in seiner mechanischen, monotonen Art weiter, und der CIA-Direktor biss die Zähne zusammen, als sei das Geräusch ätzend. Was für Ruhmestaten waren in der Zeit, in der Alex und er noch jung gewesen waren, vollbracht worden! Der Einsatz in Russland, bei dem sie fast in der Lubjanka gelandet wären; die Vorstöße über die Berliner Mauer, um an Stasi-Geheimnisse heranzukommen; die Überprüfung eines KGB-Überläufers in einem sicheren Haus in Wien, bei der sie entdeckt hatten, dass er ein Double war. Die Ermordung Bernds, ihres langjährigen Kontaktmanns; das Mitgefühl, aus dem sie seiner Frau versprochen hatten, sich um seinen Sohn Dieter zu kümmern, ihn nach Amerika mitzunehmen und ihm ein Studium zu finanzieren. Genau das hatten sie getan – und waren für ihre Großzügigkeit belohnt worden. Dieter war nie zu seiner Mutter zurückgekehrt. Stattdessen war er zur Agency gegangen und dort viele Jahre – bis zu seinem tödlichen Motorradunfall –
Leiter der Hauptabteilung Wissenschaft & Technologie gewesen.
Wohin war das Leben verschwunden? In Bernds Grab
zur Ruhe gebettet, dann in Dieters … jetzt in Alexanders. Wie war es so rasch auf einige wenige in seiner Erinnerung leuchtende Punkte reduziert worden? Zeit und Verantwortung hatten ihm schwer zugesetzt, keine Frage.
Er war jetzt ein alter Mann, in mancher Beziehung mächtiger, ja, aber die kühnen Taten von gestern, der Elan, mit dem Alex und er in die Welt der Geheimdienste hinausgeschritten waren und das Schicksal von Nationen ver
ändert hatten, waren zu Asche verbrannt, sie würden niemals wiederkehren.
Die Faust des CIA-Direktors machte den Zinnsoldaten mit einem Schlag zum Krüppel. Dann, erst dann nahm er den Telefonhörer ab.
»Ja, Martin.«
In seiner Stimme lag eine Mattigkeit, die Lindros sofort erfasste. »Alles in Ordnung mit Ihnen, Sir?«
»Nein, mir geht’s beschissen!« Darauf hatte der Direktor nur gewartet. Eine weitere Gelegenheit, seine Wut und Frustration abzureagieren. »Wie soll unter diesen Umständen alles mit mir in Ordnung sein?«
»Tut mir Leid, Sir.«
»Nein, das
Weitere Kostenlose Bücher