Das Bourne-Vermächtnis
die Erkrankung von Freunden im Strafvollzug diskutierten. Dies war ihr Leben – ihm fremder als das Leben in Asien oder Mikronesien. Ihr Zorn und ihre Trauer verfinsterten die Atmosphäre in dem Schnellimbiss.
Einmal glitt draußen langsam ein Streifenwagen vorbei wie ein Hai, der ein Riff umkreist. Alle Gäste erstarrten, als habe das Objektiv eines Fotografen diesen bedeutsamen Augenblick eingefangen. Bourne drehte den Kopf zur Seite und sah die Bedienung an. Sie beobachtete, wie die Schlusslichter des Streifenwagens den Block entlang verschwanden. Ein hörbarer Seufzer der Erleichterung ging durch den Raum. Auch Bourne war erleichtert. Er befand sich anscheinend doch in Gesellschaft von Leuten, die wie er allen Grund hatten, im Schatten zu bleiben.
Er dachte wieder an den Mann, der ihn verfolgte. Sein Gesicht hatte einen asiatischen Schnitt, aber doch nicht ganz. Hatte es etwas Vertrautes an sich – der kühne Schwung der Nase, der gar nicht asiatisch war, oder die vollen Lippen, die es sehr wohl waren? War er jemand aus Bournes Vergangenheit, vielleicht aus Vietnam? Aber nein, das war unmöglich. Er schätzte den Unbekannten auf höchstens Ende zwanzig, was bedeutete, dass er zu Bournes Zeit erst fünf oder sechs Jahre alt gewesen war.
Wer war er also? Und was wollte er? Diese Fragen bedrückten Bourne. Er stellte seine noch halb volle Tasse ab. Der Kaffee fing an, ihm ein Loch in die Magenwand zu brennen.
Wenig später saß er wieder in dem geklauten Wagen, stellte das Radio an und suchte die Sender ab, bis er einen Nachrichtensprecher fand, der nach einem Bericht über den bevorstehenden Terrorismusgipfel und einer Zusammenfassung wichtiger nationaler Nachrichten die Lokalnachrichten verlas. Ganz oben stand natürlich der Doppelmord an Alex Conklin und Mo Panov, aber seltsamerweise schien es keine neuen Ermittlungsergebnisse zu geben.
»Weitere Nachrichten in Kürze«, sagte der Sprecher,
»aber zuvor eine wichtige Mitteilung für Sie …«
»… eine wichtige Mitteilung für dich.« In dieser Sekunde stand ihm das Büro in Paris mit dem Blick auf die Champs-Elysées und den Eiffelturm wieder schlagartig vor Augen, und diese Erinnerung verdrängte den Schnellimbiss mitsamt seinen Gästen. Neben ihm stand ein schokoladebrauner Sessel, aus dem er gerade aufgestanden war. In seiner rechten Hand hielt er ein geschliffenes Kristallglas, das zur Hälfte mit einer bernsteingelben Flüssigkeit gefüllt war. Eine Stimme – tief, volltönend, melodisch – sprach darüber, wie lange es dauern würde, alles zu beschaffen, was Bourne benötigte. »Keine Sorge, mein Freund«, sagte die Stimme in stark akzentgefärbtem Englisch, »ich habe eine wichtige Mitteilung für dich.«
Im Theater seines Verstands drehte Bourne sich um, bemühte sich, das Gesicht des Mannes zu erkennen, der gesprochen hatte, aber er sah nur eine leere Wand. Die Erinnerung hatte sich verflüchtigt wie der Scotchduft und nur Bourne zurückgelassen, der trübselig in die schmutzigen Scheiben des heruntergekommenen
Schnellimbisses starrte.
Ein Wutanfall brachte Chan dazu, nach seinem Handy zu greifen und Spalko anzurufen. Das dauerte einige Zeit und kostete ihn viel Mühe, aber zuletzt wurde sein Anruf doch durchgestellt.
»Was verschafft mir diese Ehre, Chan?«, nuschelte Spalko. Chan fiel sofort auf, dass er leicht undeutlich sprach, als habe er getrunken. Seine Kenntnis der Gewohnheiten seines gelegentlichen Auftraggebers reichte tiefer, als Spalko vielleicht vermutet hätte – falls er jemals darüber hätte nachdenken wollen. So wusste er beispielsweise, dass Spalko eine Vorliebe für Alkohol, Zigaretten und Frauen hatte, jedoch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge, aber allen drei Freuden frönte er unmä
ßig. Ist er auch nur halb so betrunken, wie du vermutest, sagte Chan sich, bist du im Vorteil. Bei Spalko war das verdammt selten.
»Das Dossier, das Sie mir gegeben haben, scheint unzutreffend oder zumindest unvollständig zu sein.«
»Und wie kommen Sie zu diesem bedauerlichen
Schluss?« Die Stimme war augenblicklich hart geworden, als erstarre Wasser zu Eis. Chan erkannte zu spät, dass er sich zu aggressiv ausgedrückt hatte. Spalko mochte ein großer Denker sein – vielleicht sogar ein Visionär, wie er sich zweifellos selbst sah –, aber im Grunde seines Wesens reagierte er meist rein instinktiv. Daher hatte er sich aus halber Betäubung aufgerafft, um Aggression mit Aggression zu begegnen. Er besaß ein aufbrausendes
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