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Das brennende Gewand

Das brennende Gewand

Titel: Das brennende Gewand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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Beutel gefunden.«
    »Enkel?« Meister Krudener schenkte Leon erst jetzt seine volle Aufmerksamkeit. Er schlug sich an die Stirn, sodass sein eigenwilliger Kopfputz verrutschte. »Ivos Sohn. Ich muss mit Blindheit geschlagen sein.« Er fing das gezaddelte Ende seines Turbans auf, ehe sich die ganze Stoffmasse aufrollte, und rückte die Kopfbedeckung wieder an ihren Platz. »Wenn Ihr irgendwann einmal Zeit habt, Herr Leon, dann würde es mich sehr freuen, mich mit Euch zu unterhalten. Ich kenne Euren Vater schon seit vielen Jahren.«
    »Er hat sich - trotz seines schroffen Wesens - augenscheinlich doch Freunde gemacht. Ich bin erstaunt, wie viele ich in den letzten Tagen kennenlernte.«
    »Er hat sich genauso viele Feinde gemacht, vergesst das nicht, Leon«, mahnte Almut. »Aber Meister Krudener gehört sicher zu seinen besten Freunden. Und Ivo vom Spiegel braucht sie alle.«

33. Kapitel
    Traum und Wirklichkeit begannen ineinander zu verschwimmen, die Zeit verlor ihre Bedeutung für Pater Ivo. Mal schlummerte er, mal glaubte er zu wachen, dann wieder trugen ihn die Wellen des Schlafes in vergangene Zeiten, mal hörte er Stimmen vor der Klause, mal solche aus seinem Inneren. Er ließ sich treiben, hatte die Kraft nicht, sich an die Oberfläche emporzuarbeiten, den Willen nicht, sich dem Leben zu stellen. Doch nagte und nagte leise die giftige Schlange an ihm, die sein abendlicher Besucher in sein Herz versenkt hatte.
    Der Dispens, es gab ihn. Seine Freiheit war zum Greifen nahe gewesen.
    Er hätte die Begine …
    Nicht an die Begine denken.
    Sie war mit einem anderen Mann zusammen.
    Oder?
    Das Bild der grau gewandeten Begine mit den klugen Augen tauchte vor ihm auf und wollte nicht schwinden.
    »Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei«, flüsterte sie.
    Glaube, Liebe und Hoffnung hatte er verloren.
    Sie hatte sie nicht verloren.
    »Sie tändelt mit einem schönen Mann, sie nennt ihn vertraulich schon beim Namen. Leon ruft sie ihn.«
    Leon?
    Leon, ein kleines, schwarzhaariges Bündel mit grauen Augen. Vor so vielen Jahren hatte er seinen Sohn in den Armen gehalten. Und ihn verlassen. Zu jung, zu leichtsinnig, zu verantwortungslos. Das Abenteuer lockte. Der Ruf nach Salamanca ereilte ihn, der Drang war mächtiger als die Pflicht, auf dem Weingut zu bleiben und seinem Sohn ein Vater zu sein.
    Salamanca, das goldene Herz der Gelehrsamkeit.
    Salamanca, der Born der Lebensfreude.
    Salamanca, der nachtschwarze Brunnen des Verrats.
    Wie die bunten Gläser eines Kirchenfensters ordneten sich die Fetzen und Fetzchen seiner Träume und Visionen, die Worte der zischelnden Stimme und die Bilder seiner Erinnerungen zusammen und formten ein leuchtendes Gemälde, in dem ihm offenbar wurde, auf welche Weise sie alle zusammenwirkten.
    Er erkannte darin seinen Widersacher und schauderte.
    Es war weit schlimmer, als er vermutet hatte - nicht einer der hohen Geistlichen war es, sondern aus dem Abschaum geboren, vom Unflat genährt, von Gier getrieben, von Hass beseelt waren die Dämonen der Vergangenheit auferstanden, um sich an ihm zu rächen.
    An sich und an denen, die er liebte.
    Denn er liebte noch. Würde er sonst so leiden?
    Er liebte sie, mehr als sein Leben.
    Seine Begine.
    Seinen Sohn.
    Seinen Vater.
    Seine Freunde.
    Was hatte er getan?
    Was sollte er tun?
    Benommen blinzelte er in das Sonnenlicht, das durch das schmale Fenster fiel. Der Becher mit Wasser, das Brot lagen wie täglich auf dem Sims.
    Er fühlte sich zu elend, um das Brot für die Vögel zu zerstreuen, und gequält schloss er seine Augen.
    Ein Honigbienchen brummelte in seine Klause, setzte sich auf seine Hand und kitzelte ihn mit ihren Fühlern.
    Gestört von diesem Gefühl schlug er nach dem Insekt, und erbost senkte die Biene ihren Stachel in die Haut. Gift drang brennend in sein Fleisch, dann riss sich das Tierchen todesmutig los.
    Rüde durch den zusätzlichen Schmerz aus seinem Dämmern gerissen, wischte er den Stachel aus dem Handgelenk und saugte an der Einstichstelle. Dabei sah er dem kleinen Tier nach, das noch eine Runde durch die Klause flog und sich dann taumelnd auf dem Altar niederließ.
    Zu Mariens Füßen starb die Biene ihren Opfertod. Er aber erkannte das Zeichen.
    Dankbarkeit überwältigte ihn.
    Ehrfürchtig kniete er nieder, barg den Kopf in den Händen und tat etwas, von dem nur seine Mutter und seine Amme wussten, dass er es konnte.
    Ivo vom Spiegel weinte.
     
    Dann brach er das Brot und aß es.

34. Kapitel
    Die kleine Schar graugewandeter

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