Das Buch aus Blut und Schatten

hat erst damit angefangen, als er tot war.« Ich hatte den anderen am Morgen alles erzählt, was ich anhand von Elizabeths Briefen und den Briefen ohne Unterschrift aus Chris’ Zimmer herausgefunden hatte. Aber Adriane hatte recht, ich war die Expertin. Und obwohl ich mir ziemlich lächerlich vorgekommen wäre, wenn ich es laut gesagt hätte, hatte ich das Gefühl, als würde Elizabeth zu mir sprechen.
    Â»Wo war er vorher?«, fragte Eli.
    Â»Im Gefängnis«, erklärte ich. »Ich glaube, irgendwo auf dem Land.«
    Â»Das passt zu den Hirschen«, meinte Max.
    Â»Das passt ganz und gar nicht zu meinen Schuhen«, murmelte Adriane mit einem bedauernden Blick auf ihre Wildleder-Slingpumps. Als sie den verwirrten Ausdruck auf unseren Gesichtern sah, sagte sie: »Angesichts der aktuellen Weltuntergangsstimmung ist das vermutlich nicht wichtig, aber es ist mir eben aufgefallen. Regel Nummer eins beim Brainstorming, richtig? Man kann nie etwas Falsches sagen.«
    Â»Und irgendwie schaffst du es trotzdem«, sagte Max, aber ich sah ihm an, dass er ein Lächeln unterdrücken musste.
    Ich war froh darüber.
    Â»Wer war ihr Vater?«, fragte Eli plötzlich, der immer noch auf die Übersetzung des Briefes starrte. »Was hat er gemacht? Bevor er im Gefängnis gelandet ist.«
    Â»Er war Alchemist am Hof des Kaisers«, informierte ich ihn. »Er hat versucht, Blei in Gold zu verwandeln, Sachen in der Art.«
    Adriane seufzte. »War ja klar. Ein Zauberer. Es wird immer besser.«
    Â»Alchemisten waren keine Zauberer«, warf Max ein. »Sie waren die ersten Chemiker, die ersten Pharmazeuten – selbst die, die versuchten, Gold herzustellen, taten das nicht, um reich zu werden. Sie dachten, die Reinigung von Metallen sei gleichbedeutend mit der Reinigung der Seele. Sie suchten nach Verbindungen zwischen Erde und Himmel, der Welt der Menschen und der Welt…«
    Â»Gottes«, sagten Eli und ich gleichzeitig. Er war schon dabei, Prag/Geschichte/Alchemie/Orte in das Suchfeld einzugeben.
    Das erste, zweite und dritte Suchergebnis bezog sich auf den Mihulka, einen Pulverturm aus dem 15. Jahrhundert, der zur Burganlage auf dem Hradschin gehörte und von vielen Hofalchemisten Rudolfs II. als Alchemielabor benutzt worden war. »Unter anderem von Edward Kelley«, las Eli laut vor. Elizabeths Vater.
    Doch mein Blick war schon zum nächsten Absatz gesprungen, in dem die idyllische Lage des Pulverturms beschrieben wurde, der Teil der alten Burganlage war und auf einer Seite von den Königlichen Gärten begrenzt wurde – und etwas, das Hirschgraben hieß. Dieser Hirschgraben war während der Herrschaft von Rudolf II. eingezäunt und als Jagdgebiet für Rotwild benutzt worden. Wo unser Vater nach Gott gesucht hat.
    Wo Hirsche vor dem Tod fliehen.
    Wir hatten es gefunden.
    21 Es kam mir riskant vor, den Goldenen Löwen zu verlassen, der uns bei heruntergelassenen Jalousien und verriegelten Türen zumindest ein bisschen Sicherheit bot. Aber nichts zu tun und darauf zu warten, dass sie uns fanden, war noch viel riskanter. Daher brachen wir am Vormittag auf, und – nachdem Eli uns durch ein kompliziertes Muster aus konzentrischen Kreisen, unvermittelten Wendungen und plötzlichen Spurts quer durch eine Menschenmenge geführt hatte, was wie er sagte, sicherstellen sollte, dass wir nicht verfolgt wurden – schlossen wir uns den Touristenmassen an, die in Richtung Prager Burg strömten.
    Â»Ausweichmanöver, die du dir aus einem schlechten Spionagefilm gemerkt hast, werden uns nicht helfen«, hatte Max mit einem für ihn untypischen spöttischen Grinsen gesagt. »Das sind Profis. Es gibt keinen Mittelweg. Entweder sie sind überhaupt nicht in unserer Nähe, dann sind wir sicher, oder sie entdecken uns und dann sind wir geliefert.«
    Doch dann musste er meinen Gesichtsausdruck gesehen oder gespürt haben, wie sich meine Hand in seiner verkrampfte, denn er fügte hinzu: »Aber vielleicht hilft der Trubel hier.«
    Ob es daran lag oder nicht, wir schafften es jedenfalls ohne Zwischenfall bis zur Burg. Es war ungewöhnlich sonnig, und umzingelt von streitenden Pärchen und ausgelassenen Tagesausflüglern schien es unvorstellbar zu sein, dass es hier noch etwas anderes gab, dass sich in dem Meer aus Menschen Männer mit Messern verstecken könnten. Ich wusste, dass es gefährlich sein würde, nicht mehr