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Das Buch aus Blut und Schatten

Das Buch aus Blut und Schatten

Titel: Das Buch aus Blut und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Wasserman
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den größten Teil des Jahres damit verbracht, über ähnlichem Kauderwelsch zu brüten. »Dahinter steht der Glaube, dass Metalle lebendig sind. Alchemisten wollen den göttlichen Schöpfungsprozess nachahmen, daher haben sie eine komplexe Symbolsprache entwickelt, die chemische Prozesse als natürliche, häufig sexuelle und generative Umwandlung darstellt. ›Der Samen der Sonne‹ ist vermutlich Schwefel und ›Beischlaf‹ ist Code und bedeutet, man soll Schwefel mit Quecksilber kombinieren, denn Mercurius ist der lateinische Name des Planeten Merkur und steht in der Alchemie für Quecksilber.«
    Adriane schüttelte den Kopf. »Ich bin ja schon still.«
    Doch sie kam näher, um es sich anzusehen. Außer mir wusste niemand, dass Adriane zweimal hintereinander die Chemie-Olympiade unserer Region gewonnen hatte. Sie hatte unseren Chemielehrer zu strengster Verschwiegenheit verpflichtet und ihm für den Fall, dass er es öffentlich machte, geschworen, ihn anzuzeigen, weil er ein paar Schülern aus der zehnten Klasse »versehentlich« erlaubt hatte, im Chemielabor ihr eigenes Ecstasy herzustellen. Sie hatte ihr Geheimnis bewahren können, doch wenn Adriane jemanden als Chemiestreber bezeichnete, war das in etwa so, als würde sich der Topf über den Tiegel wundern, dabei bestehen beide aus Fe 4 CSi.
    Ich war sicher, dass diese alchemistische Formel mit der vollständigen Formel, die ich in Elizabeths Petrarca-Gedichtband gefunden hatte, identisch war, der Formel, die wir für den Schlüssel zur Übersetzung des Voynich-Manuskripts hielten. Der Formel, die sie »Thomas’ Seite« und »ihre Seite« genannt hatte. Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Unter der Formel stand ein Brief, datiert auf den 12. Oktober 1600. Zwei Monate früher als der Brief, der mit Chris’ Blut befleckt war, der Brief, den Elizabeth sogar noch zu Ende geschrieben hatte, nachdem sie vom Tod ihres Bruders erfahren hatte.
    E. I. Westonia, Ioanni Francisco Westonio fing er an, so wie der andere, doch das war schon alles an Gemeinsamkeiten.
    E.J. Weston grüßt John Francis Weston, den, der bleibt.
    Mein Bruder. Mein geliebter Bruder. Ich habe einmal zu Dir gesagt, ich hätte keine Angst vor einer leeren Seite. Das, wie so vieles andere, hat sich als Lüge erwiesen. Die Seiten verhöhnen mich, sie flehen mich an, sie mit etwas anderem als mit Tränen zu füllen. Wieder und wieder will es mir nicht gelingen. Versagen ist zu meinem treuesten Freund geworden.
    Es ist Nacht und ich bin allein mit der Leiche der Stadt. Die Kerze ist heruntergebrannt. Dunkelheit ist jetzt mein ständiger Begleiter, so anhänglich und treu wie mein Versagen, wie Gefährten auf einer Straße ohne Ziel. Früher habe ich bei Dunkelheit geschlafen. Jetzt liege ich wach und lausche auf die Stimmen der Toten.
    Bald werden die Steine im Licht der Morgendämmerung glühen, liebster Bruder. Bald werden die Flüsse aus Pisse wieder zu Eis erstarren, wieder ein Winter, wieder etwas Hässliches im Kostüm der Schönheit. Viel zu bald. Ich habe schon zu lange gewartet.
    Ich bin so weit. Ich kann beginnen.
    Â»Warum wechseln wir uns nicht ab?«, fragte ich die anderen, als ich von meiner Übersetzung aufsah. Nachdem ich stundenlang übersetzt hatte, war meine Hand ganz steif, aber daran war ich selbst schuld, weil ich mir von niemandem hatte helfen lassen. Eli und Adriane waren beide der Meinung gewesen, dass es schneller gehen würde, wenn jeder einen Teil übernahm. Aber Max hatte gesagt: »Nora soll das machen.« Und so hatte ich gar nicht erklären müssen, warum ich allein an dem Brief arbeiten wollte, warum das hier für mich etwas Konkretes war, etwas, an dem ich mich festhalten konnte. Es war etwas Vernünftiges und Normales, wenn ich Elizabeths Worte abschrieb und in meine Sprache übersetzte, warum das Gewicht des Stifts und das Kratzen der Tinte auf dem Papier und sogar der Schmerz in meinem Handgelenk etwas waren, was ich jetzt brauchte. »Der Brief ist zu lang, um ihn laut vorzulesen.«
    Â»Lies weiter«, sagte Max. »Es hört sich sehr schön an. Mit deiner Stimme. Mach weiter.«
    Ich wollte nicht. Nicht, weil ich mich drücken wollte, sondern, weil ich mich viel zu sehr mit ihren Worten identifizierte. Sie laut vorzulesen, war, als würde ich ein Geheimnis verraten, das ich lieber für mich behalten

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