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Das Buch aus Blut und Schatten

Das Buch aus Blut und Schatten

Titel: Das Buch aus Blut und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Wasserman
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hätte. Ich wusste, wie es war, nicht schlafen zu können, darauf zu warten, dass die Toten aufstanden.
    Ich räusperte mich.
    Alles begann im Turm, in der Dunkelheit und in der Kälte. Ich habe Dir doch erzählt, dass unser Vater sich Tag und Nacht mit diesem großartigen Buch beschäftigt. Doch bis jetzt habe ich Dir noch nicht anvertraut – weil ich es einfach nicht vermochte –, welches Geheimnis diese Seiten enthielten. Welches Geheimnis unser Vater Bacons Werk entrissen hat. Es war ein Versprechen, hat er gesagt. Ein Geschenk seiner Racheengel. Es war das Lumen Dei.
    Für mich war das Lumen Dei zuerst nur ein schöner Traum, in dem unser Vater seine letzten Tage ausleben konnte. Letzte Tage, von denen ich glaubte, dass sie niemals enden würden. Ich war ein Kind, voll kindlicher Hoffnung. Dieses Kind starb in der Nacht, in der der Kaiser unseren Vater ermorden ließ.
    Ich kann hören, wie Du mir widersprichst, liebster Bruder. Doch ich habe schon viel zu lange geschwiegen. Dieser Brief ist unser Geheimnis, Bruder, und ich bringe diese Worte so zu Papier, als würde ich sie Dir ins Ohr flüstern.
    Rudolf II., Herzog von Österreich, König von Böhmen, weltliches Oberhaupt der katholischen Kirche, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, hat unseren Vater getötet. Vielleicht war es nicht seine Hand, die das Gift verabreicht hat, aber es war sein finsteres Werk. Unser Schicksal ist sein Vermächtnis.
    Und unser Vater hat es gewusst.
    Sein letzter Wunsch war einfach. Ich sollte die Seiten zu dem einzigen Mann bringen, dem er zutraute, seine Vision zu vollenden. Zusammen sollten wir das Lumen Dei bauen und zusammen sollten wir es dem Kaiser überreichen, ein Geschenk im Namen von Edward Kelley. Ich sollte die Seiten eine nach der anderen aus der Hand geben, um sicherzustellen, dass dieser Mann den Preis nicht für sich selbst beansprucht. Du kannst ihm vertrauen, hat unser Vater zu mir gesagt. Doch was das Lumen Dei angeht, kannst Du niemandem vertrauen.
    Dieser Mann war Cornelius Groot.
    Du hast sicher gehört, was man sich über ihn erzählt. Gerüchte von einem Labor in einer dunklen Ecke der Malá Strana, bewacht von einem Steinlöwen, der angeblich im Mondlicht zum Leben erwacht, Gerüchte von einer Kammer voller Ungeheuer, die ihm aufs Wort gehorchen, von Dämonen, die er aus den Untiefen der Erde heraufbeschwört, und von klirrenden und kreischenden Eisentieren, deren Räder im Höllenfeuer geschmiedet wurden. Diese Geschichten waren nicht schlimmer als jene, die man sich über unseren Vater erzählte, und ich war nicht so dumm, sie zu glauben. Und doch zögerte ich, als ich vor dem Steinlöwen stand, einen Brief unseres Vaters in der zitternden Hand. Mein Atem und mein Mut verließen mich. Und nur Dir, meinem Bruder, gestehe ich, dass ich vielleicht umgekehrt wäre, nein, ich wäre mit Sicherheit umgekehrt, wenn sich die Tür nicht geöffnet hätte. Vor mir stand ein Buckliger, dessen Knopfaugen in der Dunkelheit gelb glühten. Er stellte keine Fragen und winkte mich hinein.
    Ich beobachtete die anderen ganz genau, doch niemand zuckte zusammen, als ich »vor dem Steinlöwen« sagte. Außer mir war offenbar niemand so abergläubisch, etwas daran zu finden, dass ein paar Zentimeter unter unserem Fenster zufällig ein Steinlöwe auf dem Türrahmen saß. Manchmal ist ein Löwe einfach nur ein Löwe, sagte ich mir. Manchmal… aber in letzter Zeit eben nicht.
    Wartet hier, krächzte der bucklige Diener, der mehr Tier als Mensch zu sein schien, und hinkte in die Schatten, aus denen er gekommen war.
    Ich blieb allein in Groots Schreckenskammer zurück. Die Wand, die mir am nächsten war, war mit Regalen versehen, Regalen, auf denen große, mit einer milchigen Flüssigkeit gefüllte Krüge standen. In diesen Krügen schwamm der Tod. Tote Schweine, tote Mäuse, tote Hände mit vollständig erhaltenen Fingernägeln. Auf einem Marmortisch in der Mitte des Raums lag eine Leiche, den Brustkorb geöffnet, die Augenhöhlen leer, die Lippen zu einem grausigen Lächeln nach hinten gezogen. Eine Menagerie aus mechanischen Tieren klickte und schnarrte in ihren Käfigen und beobachtete mich aus blinden Augen.
    â€“ Meine Kunstkammer, so prächtig wie die des Kaisers, pflege ich gern zu sagen. Aber natürlich nicht zum Kaiser.
    Groots Stimme war wie Samt, tief und

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