Das Buch aus Blut und Schatten
geschmeidig. Er sprach mich nicht auf Deutsch oder Tschechisch oder in seiner Muttersprache Niederländisch an, sondern auf Latein, als wüsste er, dass es mich erfreuen würde. Eine Kerze erwachte flackernd zum Leben und warf ihr Licht auf seine in einen Umhang gehüllte Gestalt auf der anderen Seite des Laboratoriums. Zuerst sah ich die Augen. Nicht seine Augen, diese schmalen Teiche aus Dunkelheit, deren Blick ich schnell zu vermeiden lernte. Die Augen, die die Wand hinter ihm säumten, tote Augen, die hinter fleckigem Glas schwammen, reinweiÃe Knollen, durchzogen von spinnwebartigen roten Adern. Glaubst Du mir, lieber Bruder, wenn ich Dir versichere, dass ich nicht geschrien habe?
â Euer Vater hat GröÃe erkannt, wenn sie seinen Weg kreuzte. Und ich hatte mich noch nicht einmal vorgestellt.
â Die Welt hat einen groÃen Verlust erlitten. Und Ihr ebenfalls. Ich konnte nicht sprechen.
â Ihr wart ein schönes Kind. Aber das Ergebnis ist keine Ãberraschung. Ein tragisches Schicksal ist der Schönheit niemals förderlich, nicht wahr?
Es wirkte wie eine Zauberformel, der Bann war gebrochen. Ich versichere Dir, lieber Bruder, dass es nicht die Eitelkeit war, die meine Zunge löste. Für meine schiefe Nase kann ich nichts, meine Locken führen ein eigenes Leben und die Wehmut in der Stimme unserer Mutter, wenn sie von früher spricht, als wäre ich damals eine andere goldene Elizabeth gewesen, verrät mehr als jedes Spiegelbild. Ich habe immer gewusst, was ich bin. Doch zu wissen, dass Groot mich als Kind gekannt hat, mir vorzustellen, dass seine spindeldürren Finger mein früher so gehorsames Haar liebkost hatten, dass seine Stimme Kinderreime in mein Ohr gesummt hatte, war für mich ein unerträglicher Gedanke.
Bruder, Du weiÃt, dass ich für den gröÃten Teil des Männervolks nie viel übrig hatte, aber ich habe noch nie jemanden getroffen, den ich vom ersten Moment an so abgrundtief gehasst habe. Und doch hat unser Vater ihm vertraut. Ich gab ihm den Brief und sah zu, wie sich sein langes bleiches Gesicht beim Lesen veränderte, wie sich Ãberraschung, Erstaunen und schlieÃlich Begierde darin widerspiegelten. Und als sich unsere Blicke wieder trafen, sah sein Lächeln genauso aus wie das der Leiche.
â Die wahre Philosophie besteht darin, mithilfe des Wissens über die geschaffene Welt zu Wissen über den Schöpfer zu gelangen.
Bacon, sagte ich, als ich eine der Lieblingsweisheiten unseres Vaters erkannte. Er nickte. Damals war es mir nicht bewusst, aber das war der erste Test gewesen.
â Versteht Ihr, wonach ich hier strebe? Was ich zu erreichen suche?
Sein Arm deutete auf das Laboratorium, auf den Tod darin. Nein, antwortete ich, und ich wollte es auch nicht verstehen.
â Wir kennen die Welt nur, weil wir uns darin bewegen. Wir kennen den Schöpfer nur, weil wir selbst etwas erschaffen. Paracelsus hat das verstanden. Agrippa und Porta ebenfalls. Die letzte Erkenntnis erlangt man durch die höchste Schöpfung. Die Alchemisten sind auf der Suche nach dem Stein der Weisen, sie reinigen ihre Seele ebenso wie die Metalle und machen sie bereit für das Göttliche. Die Astronomen suchen unseren Schöpfer im Himmel, die Mechanistiker suchen Ihn in der Funktionsweise der Erde. Sie sprechen davon, das Buch der Natur zu lesen. Aber einige von uns trachten danach, ein neues Buch zu schreiben. Bacon. Euer Vater.
Ihr, so vermutete ich.
â Ihr wollt mehr über das Lumen Dei hören, Ihr wollt wissen, was es uns verheiÃt. Ich will Euer Versprechen hören. Ein fairer Handel, wie ich glaube.
Ein weiterer Test. In der Morgendämmerung des nächsten Tages kehrte ich in sein Laboratorium zurück, das in Dunkelheit lag. Dieses Mal sprach sein humpelnder Diener.
â Es braucht Augen. Es ist an Euch, sie auszuwählen und dann einzusetzen.
An der Stelle, an der die Leiche gelegen hatte, befand sich jetzt ein mechanischer Mann, ein Torso ohne GliedmaÃen, mit einem Kopf aus Eisen. Und leeren Höhlen, in denen, falls ich mich beweisen wollte, bald schon Augen sein würden.
Sie starrten mich aus ihren Krügen an. Braune, blaue, grüne, schwarze, alle mit dem gleichen toten Blick.
Ich wählte ein Paar mit groÃen Pupillen aus, die von unergründlichem Schwarz umgeben waren, das Paar, das Groots tintenschwarzem Blick am meisten ähnelte. Dann tauchte ich meine Hände in
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