Das Buch aus Blut und Schatten
Wochen kannte. Diesem Fremden. Ich wusste, dass er tschechisch sprach. Ich wusste, dass er seine Eltern hasste oder glaubte, sie zu hassen. Ich wusste, dass seine Augen die Farbe des Meers hatten und zu schmalen Schlitzen wurden, wenn er überlegte, ob er lachen sollte. Aber sonst wusste ich nichts. Ich wusste nicht, wie alt er war, wie sein Leben aussah, was er wollte. Ich wusste nichts, was wichtig war, bis auf die Tatsache, dass er mich angelogen hatte. Und ich hatte es zugelassen.
»So, so. Ein durchgeknallter Ninja«, sagte ich.
»Ist ein Hobby von mir.«
»Sechs Männer. Mit Messern. Gegen dich.«
Er zuckte mit den Schultern.
»Und offenbar hast du auch ein Messer. Mit dem du natürlich die abgefahrensten Sachen anstellen kannst.«
»Allzeit bereit.« Er hielt drei Finger zum Pfadfindergruà hoch.
»Du hast mit ihnen gerechnet.«
Er zögerte. »Ich hatte mit irgendwas gerechnet.«
»Sie haben auf der Brücke auf uns gewartet, als hätten sie gewusst, dass wir kommen.« Ich sah ihn an.
Die Worte standen zwischen uns.
»Es gibt da ein paar Dinge, die du wissen solltest«, erwiderte er schlieÃlich.
»Ãber dich.«
»Ãber Max.«
Damit hatte ich nicht gerechnet. Und ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass er eine Mappe hervorholte und sie mir unter die Nase hielt. »Oder sollen wir noch auf Adriane warten?«
Ich nahm die Mappe. »Adriane wird dir nicht zuhören. Sie traut dir nicht.«
»Aber du schon?«
»Inzwischen halte ich das nicht mehr für eine sinnvolle Frage«, meinte ich. Ich klang kalt; mir war kalt. »Ich will wissen, was du weiÃt. Und wenn ich es benutzen kann â gut.«
»Und wenn du mich benutzen kannstâ¦Â«
»Auch gut.«
»Vielleicht denkst du anders, wenn du dir die Unterlagen ansiehst.«
»Ãber dich?«
»Ãber alles.«
»Ich werdâs riskieren.« Ich öffnete die Mappe.
Es dauerte eine Weile, bis ich mir die Fotos und E-Mails angesehen hatte, bis ich verstand, was ich da vor mir hatte, in Druck, in Pixel, in Farbe und Schwarz-WeiÃ, in knallharter, mit Zeitstempeln versehener Ausführlichkeit. Es dauerte eine Weile â und dann war es, als würde mir der Boden unter den FüÃen weggezogen.
»Wer bist du?«, fragte ich ihn, als ich wieder sprechen konnte.
»Eliás Kapek. Eli. So, wie ich es dir gesagt habe.«
»Und alles andere, was du mir gesagt hast?«
Sein Blick verriet nichts. »Ich war so ehrlich wie möglich.«
Ich klappte die Mappe zu und zwang mich, nicht daran herumzuspielen. Und ich würde sie auch nicht zerknüllen, zerreiÃen oder anzünden.
»Du bist nicht der Cousin von Chris«, sagte ich.
»Keine Sorge, den Moores geht es gut.«
»Das habe ich dich nicht gefragt.« Obwohl ich es hätte tun sollen. Es hätte mein erster Gedanke sein sollen, denn wenn Eli nicht Chrisâ Cousin war, hatte jemand die E-Mail der Moores gefälscht, in der behauptet wurde, er sei es. Es war gut möglich, dass man sie aus der Stadt geschafft und von der AuÃenwelt isoliert hatte. Oder noch Schlimmeres mit ihnen angestellt hatte. Mein Gehirn war nur noch Matsch. »Alles, was ich über dich weiÃ, ist eine Lüge. Aber du erwartest, dass ich das, was in dieser Mappe ist, glaube. Dass du mir jetzt, in diesem Moment, die Wahrheit sagst.«
»Glaub es. Oder lass es. Aber es stimmt alles.«
Die Wahrheit nach Eli und seinen gesammelten Beweisen klang bestechend logisch. Das Dossier erzählte eine ganz einfache Geschichte:
Dokument :
Geburtsurkunde eines gewissen Max Lewis.
Dokument :
ein verblichener Zeitungsartikel über den Tod eines gewissen Max Lewis im Jahr 1996, im Alter von drei Jahren.
Dokument :
ein fotokopiertes Blatt Papier mit Ausweisen, jeweils mit Maxâ Foto, jeder auf einen anderen Namen ausgestellt, Max Schwarz, Max Black, Max Voják.
Dokument :
E-Mail, adressiert an anon34, mit Auflistung der verschiedenen Aktivitäten, um Chris als Zimmergenossen zu gewinnen und über ihn Professor Anton Hoffpauers Forschungsprojekt zu überwachen.
Dokument :
E-Mail, gleicher Adressat, mit Informationen zum Ablauf des Forschungsprojekts und Fortschritten.
Dokument :
E-Mail, gleicher Adressat, mit Informationen über die Funde einer gewissen Nora Kane, die vyvolená sein könnte.
Dokument :
E-Mail, an Max, von anon34, mit der Anweisung, sofort zu
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