Das Buch aus Blut und Schatten
obligatorischen tiefen Blicke in die Augen, der abgebrochene Versuch eines Kusses, der endete, als seine Lippen irgendwo in der Nähe meiner Nase waren und wir beide im gleichen Moment zurückzuckten und zu lachen begannen â, war da etwas zwischen uns: sozusagen auf den ersten Blick.
Das wollten sie aber nicht hören.
»Wir wollten uns zusammen einen Film ansehen«, sagte ich. »Ich kam etwas zu spät.«
Sie zwangen mich, alles zu erzählen, von Anfang an bis zum blutigen Ende, und dann noch einmal, einmal vor und einmal zurück, Wunden, die sich schlossen, Leichen, die aufstanden, ein Horrorfilm im Rückwärtslauf, und jedes Mal, wenn ich die Geschichte erzählte, lieà ich sie in dem Glauben, dass es mir nichts ausmachte, die Pointe zu erreichen und immer wieder »Er war tot« zu sagen. Sie stellten immer wieder die gleichen Fragen in anderen Worten, doch ich hatte sämtliche Wiederholungen von Law & Order gesehen und wusste, dass Lügner bei ihren Aussagen immer konsistenter waren als traumatisierte Zeugen, die die widersprüchliche Wahrheit sagten. Wenn ich gelogen hätte, hätten sie das nie herausgefunden. Und ich dachte: Wie ich hätte lügen sollen, wenn ich hätte lügen wollen. Warum es in dem Raum keinen Polizeispiegel gab. Ob Polizisten wirklich so gern Donuts aÃen, und falls ja, ob ich einen haben konnte und ob ich ihn essen konnte, ohne mich übergeben zu müssen.
Nicht warum ist Chris tot?
Nicht was ist mit Adriane passiert?
Nicht wo ist Max?
Mein Handy hatten sie mir weggenommen.
»Ich war das nicht«, sagte ich.
»Wer hat behauptet, dass Sie es waren?« Das kam von dem jüngeren Polizisten.
»Glauben Sie wirklich, dass ich einfach dageblieben wäre und den Notruf gewählt hätte, wenn ich es getan hätte?«
»Nein. Das glauben wir nicht.« Der ältere Polizist. »Es gab Anzeichen für einen Kampf. Und Blut, das nicht dem Opfer gehört. Der Täter muss Abwehrverletzungen haben. Und jemand Ihrer GröÃeâ¦Â« Er schüttelte den Kopf. »Aber Sie wissen vielleicht etwas, das uns weiterhelfen könnte. Wollen Sie uns helfen oder nicht?«
Selbst ohne meine durch Law & Order erworbenen Fachkenntnisse hätte ich gehört, was er nicht sagte: Dass ich vielleicht etwas wusste, weil ich in der Sache mit drinsteckte. Dass ich vielleicht nicht helfen wollte, weil ich danebengestanden und zugesehen hatte, wie jemand anderes Abwehrverletzungen erlitten hatte, dass ich zugesehen hatte, wie Chris starb.
Ich nickte.
Sie fragten nach Chris und Adriane, nach ihrer Beziehung (»sehr eng«), wie oft die beiden Streit hatten (»nie«), ob einer den anderen schon mal betrogen hatte (»nie«), ob ich heimlich in Chris oder Adriane oder beide verliebt gewesen war (»Sie können mich mal«). Sie fragten nach dem Symbol, das mit Chrisâ Blut gemalt worden war, ob ich es schon mal gesehen hatte, ob es für mich eine Bedeutung hatte, ob Chris in etwas verwickelt gewesen war, bei dem man mit menschlichem Blut sonderbar aussehende Zeichen malen musste. (Ich konnte mir schon die Schlagzeilen vorstellen: Tragödie nach Sex in Dreiecksbeziehung! Teenagerorgie mit Todespakt! Blutiger Satanskult in Kleinstadt!)
Es gab keine Fenster und keine Uhren. Jemand brachte mir Kaffee, den ich nicht trank, und ein pappiges Sandwich, das ich nicht aÃ. Keine Donuts.
Sie fragten nach Max.
Sie fragten oft nach Max.
»Er hätte auch in dem Haus sein sollen«, stellte der ältere Polizist fest. »Sie haben gesagt, er sei gar nicht aufgetaucht. Aber jemand hat gesehen, wie er aus der Nachbarschaft geflüchtet ist, kurz nachdem die Leiche entdeckt wurde. Seine Fingerabdrücke sind überall am Tatort â «
»Das ist kein âºTatortâ¹, das ist das Haus von Chrisâ Eltern. Natürlich sind seine Fingerabdrücke dort. Meine auch. Und die von Adriane. Und die vom Gasmann. Vielleicht war er es.«
»Wenn er nichts zu verbergen hat, warum stellt er sich dann nicht?«
Weil er das nicht kann.
Weil er tot ist.
Ich konnte es nicht sagen. Ich konnte nicht aufhören, es zu denken.
»Wir haben versucht, seine Eltern zu erreichen, unter der Nummer, die beim College hinterlegt wurde. Die Nummer gibt es nicht mehr.«
»Und?«
»Kennen Sie seine Eltern?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Kennen Sie irgendjemanden, der bestätigen kann, dass Max
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