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Das Buch aus Blut und Schatten

Das Buch aus Blut und Schatten

Titel: Das Buch aus Blut und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Wasserman
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das Stadtviertel, auf der die Touristen von der Karlsbrücke an einem Ende zum Pulverturm am anderen geschleust wurden, war – den Stadtführern zufolge, an denen wir uns vorbeiquetschten, während sie orangefarbene Schirme hochhielten, um ihre gehorsame Herde nicht zu verlieren – früher einmal der Krönungsweg von Kaisern, Königen und Päpsten gewesen. Mit Juwelen geschmückte Eminenzen aller Arten marschierten voller Stolz in Richtung des Königspalastes, Würdenträger wurden durch die Straßen getragen, manchmal in Sänften, manchmal in Särgen. Jetzt, nachdem der Weg für Helden und Eroberer zu einer Einkaufsstraße mit Kopfsteinpflaster verkommen war, konnte man sich das nur noch schlecht vorstellen.
    Es gab Geschäfte, die farbiges Kristallglas verkauften, Geschäfte, die gefälschte Uhren, gefälschte Handtaschen, gefälschte Schuhe verkauften, Geschäfte, die offensichtlich raubkopierte CDs verkauften, Geschäfte, die Matroschka-Puppen mit den Gesichtern von Präsidenten, Fußballspielern, Filmstars und – am häufigsten – Michael Jackson verkauften, Geschäfte, die billigen Modeschmuck verkauften, Geschäfte, die Salzbrezeln und süßen, auf Stangen über Holzfeuer gebackenen Hefeteig verkauften, und vor allem Geschäfte, die Marionetten verkauften. Marionetten, deren ausdruckslose hölzerne Gesichter durch das Glas der Schaufenster starrten, die Glieder in verhedderten Schnüren gefangen, die Lippen zu einem Lächeln oder einem Schrei erstarrt, Tränen oder Sommersprossen auf den Apfelbäckchen – endlose Reihen Marionettenmädchen und Marionettenjungen, die von Marionettendrachen bedroht, von Marionettenprinzen umworben, von Marionettenteufeln in Versuchung geführt wurden.
    Vor vielen dieser Geschäfte hatten sich Bettler in zerrissener Kleidung unter schmuddeligen Decken zusammengekauert. Auch wenn mir schon als Grundschülerin eingebläut worden war, diese Menschen mit allem gebotenen Respekt als Wohnsitzlose zu bezeichnen – das hier waren unbestreitbar Bettler. Sie sahen aus, als kämen sie direkt aus einem Volksmärchen, es waren Bettler, die auf den Knien rutschten, auf dem Bauch mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden lagen, in den ausgestreckten Armen einen Hut, der bestenfalls ein paar Münzen enthielt. Ich wollte sie nicht anstarren, aber ich wollte sie auch nicht krampfhaft nicht anstarren, wie die Horden kamerabehangener Touristen, die ihren Blick abwandten und an ihnen vorbeigingen oder über sie hinwegstiegen, als wären sie lediglich ein etwas breiterer Spalt im Bürgersteig.
    Als die Straße uns auf einen großen, quadratischen Platz ausspuckte, an dessen Rand ein aufwendig verzierter Uhrenturm stand, dahinter eine Kirche, deren Türme mich an das Schneewittchen-Schloss in Disneyland erinnerten, war ich froh, dass ich endlich eine Entschuldigung hatte, nach oben zu sehen.
    Fast der gesamte Platz war von einem Markt besetzt, auf dem Obst und Gemüse, geröstetes Brot und Würste in verschiedenen Größen und Farben verkauft wurden. Da wir seit Paris außer schlabberigen Eurail-Sandwiches nicht viel gegessen hatten, probierten wir so viel wie möglich. Adriane konnte gar nicht genug bekommen von den rakvi č ky , ein längliches, nach Nüssen schmeckendes Gebäck mit Cremefüllung, das plötzlich wie Pappe in meinem Mund lag, als Eli den Namen für uns übersetzte: kleine Särge.
    Â»Stell dich nicht so an«, sagte Adriane mit vollem Mund. Ihre No-Carb-Regel hatte wohl auch gerade Ferien. Sie sagte es noch einmal, als wir vor dem Uhrenturm eine kleine Pause einlegten, um uns zurechtzufinden, und einem Stadtführer zuhörten – dieser trug ein Renaissancekostüm, was für ihn aber kein Grund war, auf den obligatorischen Schirm zu verzichten. Er erzählte seinen Schäfchen, dass die siebenundzwanzig im Pflaster eingelassenen Kreuze an die siebenundzwanzig Protestanten erinnerten, die im 17. Jahrhundert an einem einzigen Nachmittag unter lautem Jubel der Katholiken geköpft worden waren. Offenbar wurde der Jubel noch größer, als – der anschaulichen Beschreibung des Reiseführers zufolge – der Scharfrichter kreativ wurde und diverse Zungen abschnitt und an den Galgen nagelte, und noch lauter, als die abgeschnittenen Köpfe der Hingerichteten in Körben über den Krönungsweg getragen und

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