Das Buch der Gaben - Tommy Garcia ; Band 1
doch eine geben. Jedes Haus hatte doch eine Tür. Aber wir waren nur in diesem wilden Garten rumgesprungen, der eine magische Anziehungskraft auf uns ausgeübt hatte.
»Es muss einen Eingang haben«, drängte Tommy. »Was ist mit Kellerfenstern oder Gittern?«
Ich dachte nach und versuchte, mir das Haus und jede seiner Seiten ins Gedächtnis zu rufen. Aber es gelang mir nicht, das Bild vor meinem inneren Auge entstehen zu lassen.
»Ich kann mich nicht erinnern, dass es Kellerfenster oder sonst was hat. Vielleicht sind sie aber auch alle zugewachsen von den Brombeeren. Da kommst du ohne dicke Handschuhe und lange Jeans nicht durch.«
»Dann sollten wir morgen Jeans und Handschuhe mitnehmen«, meinte Tommy völlig ernst. Ich musste für einen Moment an Andi denken. Auf so eine Idee war er nie gekommen. Was ich mit meinem alten Freund erlebt hatte, sollte gegenüber den Ereignissen der nächsten Tage verblassen und nur noch als nette Erinnerung an ein altes Leben in meinem Kopf verbleiben.
»Okay«, sagte ich. »Erkunden wir morgen das Haus. Außerdem wird das Lazy und Jever freuen. Das Gelände ist toll zum Herumstreunen für die beiden.«
Sanne berührte Tommy am Arm, was ich mit einem gewissen Befremden feststellte.
»Kann ich mitkommen?«
»Nein«, sagte ich.
»Ja«, sagte Tommy gleichzeitig, und wir schauten uns an. Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als einzulenken. Tommy hatte also schon die Führung übernommen.
»Na gut. Aber du wirst mit uns keinen Spaß haben. Triff dich doch lieber mit deiner komischen Freundin«, startete ich einen letzten Abwimmelversuch.
»Die nehme ich mit!«, meinte Sanne schnippisch. Ich hatte endgültig verloren.
Der Bus kam, und für diesen Tag war das Haus nicht mehr wichtig. Aber das sollte sich sehr schnell wieder ändern.
*
Als wir im Einkaufszentrum ankamen, standen bereits eine Menge Leute rund um die Absperrungen herum. Man hatte sie vorsichtshalber weiträumig um den Platz gezogen, auf dem der Kran für das Bungee-Jumping stand. Schon von weitem winkte uns ein Mädchen zu, das mir irgendwie bekannt vorkam. Und als Sanne zurückwinkte, fiel mir ein, dass ich sie schon zwei, drei Mal bei uns zu Hause gesehen hatte, als sie zum Hausaufgabenmachen bei meiner Schwester war. Die beiden sind jedoch immer sofort in Sannes Zimmer verschwunden, ganz so, als würde es völlig unter ihrer Würde sein, mit einem ein Jahr älteren Jungen auch nur ein Wort zu wechseln. Andererseits, wenn ich so darüber nachdenke, habe ich Andi auch nie meiner Schwester vorgestellt. Das wäre schließlich auch peinlich gewesen.
Also, dieses Mädchen winkte wie verrückt, und Tommy und mir blieb nichts anderes übrig, als uns von Sanne in ihre Richtung ziehen zu lassen. Lazy und Jever hatten wir an die Leine genommen, und das nahmen uns beide ziemlich übel. Lazy trabte im Tempo einer Schildkröte nebenher, was unsereigenes Vorankommen ziemlich einschränkte, und Jever würdigte uns keines Blickes, da es ihm an der Leine unmöglich war, ausgiebig rumzuhopsen, und er wiederum war der Meinung, dass sein Vorankommen dadurch ziemlich eingeschränkt war.
Als wir an den Gittern, die die Absperrungen bildeten, angekommen waren, ging ein Raunen durch die Zuschauer. Da oben machte sich jemand bereit, in die Tiefe zu springen. Ich fand es nicht gerade sehr einfallsreich, einen Kran mit einer Plattform auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums aufzustellen, von dem sich die Leute dann hinunterstürzen. Ich dachte bei Bungee-Jumping immer eher an andere Orte, zum Beispiel an eine Hängebrücke über einem reißenden Fluss, an Wolkenkratzer oder an den Eiffelturm.
Während ich so nach oben starrte, war mir schon recht komisch zumute, obwohl ich es doch gar nicht selbst war, der da gleich aus schwindelerregender Höhe mit einem dünnen Seil an den Füßen ins Nichts springen sollte. Ich entdeckte ein Schild am Fuße des Aufbaus, auf dem die technischen Daten des Spektakels standen: Absprunghöhe: 60 Meter. TÜV-geprüft im Juni – das war erst letzten Monat. Maximal mögliche Sprungfrequenz: zwölf Springer pro Stunde.
Ich dachte, wo ist denn die Statistik, die sagt, wie viele Springer in der letzten Zeit zermatscht wurden? Aber darüber schwiegen sich die Veranstalter aus. Im nächsten Augenblick hörte ich schon einen langgezogenen Schrei, den der Springer da oben ausstieß, als er sich todesmutig fallen ließ,und gleich darauf kreischte die Meute um mich herum ebenfalls um die Wette. Mich überfiel
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