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Das Buch der Gleichnisse

Das Buch der Gleichnisse

Titel: Das Buch der Gleichnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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Scherz« , hatte er sicherheitshalber hinzugefügt.
    »Ich habe mich zuweilen gefragt, was daraus geworden ist«, sagte sie nach einem langen Schweigen. »Ich habe mich sehr oft gefragt. Deshalb ist es ebenso gut, dass wir uns getroffen haben.«
    »Wie meinst du?«
    »Was daraus geworden ist. Aus diesem Sonntagnachmittag. In dir. Man weiß es ja nie. Oder was in mir daraus geworden ist, genauso. Ja, was in uns daraus geworden ist.«
    Er sah sie an. Es tat weh. Er fand nichts zu sagen.
    »Darf ich einen Brief schreiben?«, fragte er am Ende.
    »Nein. Das darfst du nicht.«
    »Darüber, was in mir daraus geworden ist?«
    »Nein. Schreib einen Brief, wenn ich tot bin.«
    Danach hatte sie eigentlich nichts mehr gesagt. Nicht, soweit er sich erinnern konnte. Doch, aber die Vorstellungskraft! hatte sie gesagt und gleichsam abrupt im Gedanken innegehalten. Aber die. Aber die.
    Der Lokalzug nach Stockholm fuhr ein, und hielt.
    Es war nicht mehr viel zu sagen. Ohne ihn anzusehen, sagte sie, dass er jetzt fahren und diesen Lokalzug nehmen müsse, der um 18.15 Uhr von Gleis eins abgehe. Er machte eine Art Geste mit der Hand, wie um eine Frage zu stellen, aber sie hob die Hand, es war unausweichlich. Er sah sie an, und zum ersten Mal sah sie zurück. Sie sah nettig aus, und sie hatte sich gut gehalten. Ihre Haare waren noch immer braun, und sie hatte ziemlich schöne Augen.
    Nein, es war unausweichlich. Er ergriff ihre Hand und sagte mit einem kräftigen Händedruck adieu und tat so, als sähe er nicht, dass sie weinte. Gerade als er die ersten Schritte auf den Wagen zu gemacht hatte, fielen ihm die Tulpen ein; er öffnete den Reißverschluss seines Traininganzugs, es war Bureå IF , und holte sie heraus, alle fünf, sie hatten sich trotz allem ganz gut gehalten, streckte sie ihr hin und sagte:
    »Ja, ich hab ganz vergessen …«
    »Danke«, sagte sie.
    »Dir auch vielen Dank.«
    Da lächelte sie, und er wusste, dass er, wieder einmal, die richtigen Worte gesagt hatte. Er stieg ein.
    Signal.
    Er stand am Wagenfenster und guckte.
    Sie hatte sich wieder auf die Bank gesetzt und sah auf den Bahnsteig mit den Kippen, oder auf die Tulpen in ihrer linken Hand, eins von beiden, und sie blieb sitzen, als der Zug anrollte. Er winkte vorsichtig.
    Und da hob sie die Hand.

Kapitel 8
Das Gleichnis vom Postfräulein
    Er rechnet nach, wie viele Jahre vergangen sind seit jenem Nachmittag in der Küche des Larssonhofs.
    Es sind viele.
    Konnte das, was da geschehen war, wirklich so wichtig sein? Er hat sich ja dafür entschieden, dass die Liebe eingebrannt wird in den Menschen, wie ein Brenneisen in ein Tier! Aber auf sie traf das nicht zu. Da war ja die Liebe gleichsam nettig gewesen.
    Nie wird er über die Liebe schreiben können. Er taugt nicht. Die Zeichen unbegreiflich. Ging es so zu, wenn man Mensch wurde? War es so für den Vater?
    Er notiert, dass er eigentlich nichts von ihr gewusst hat, der Frau an jenem Sommersonntag, auf dem astfreien Kiefernholzboden. Die neunundsiebzig Jahre alt war, als sie starb. Und bei deren Beerdigung er zugegen war.
    Also der Frau mit der Limonade. Nie gewusst hat, vielleicht nie wissen wird. War sie verheiratet? Hatte sie Kinder? Was hatte sie gearbeitet? Woran hatte sie geglaubt? Wovor hatte sie Angst gehabt?
    Das war wohl der Grund, warum sie so viel in ihm ausfüllte . So viele Jahre lang. Durch ihre stille und traurige Art .
    Da war es, diese Worte: »Durch ihre stille und traurige Art.«
    Woher kamen sie.
    Notiz aus dem Arbeitsbuch über das Postfräulein: Sie gehörte vielleicht dazu, er ist ausgewichen.
    Dicht bei Brattbygards Schulheim – der Anlage, die die Monster und die Missgebildeten und den Jungen mit der Krokodilhaut und die lallenden und sabbernden Kinder enthielt, die Monster, die Warnzeichen waren, und von denen seine Mutter zu wiederholten Malen in ermahnendem Ton gesagt hatte, so hätte es auch dir gehen können und du hättest eins von ihnen sein können! Wenn … wenn!, es war dieses Wenn! , das ihn verfolgte – lag das Postamt, Adresse Vännäsvägen 12.
    Wenn er bei Tante Lily zu Besuch war, die Vorschullehrerin im Dorf war, doch nicht für die Monster, ging er jeden Tag und holte die Post. Dem Postamt stand eine Frau in mittleren Jahren vor, vielleicht fünfunddreißig Jahre alt, sie trug immer ein grünes Crêpekleid, das keinen Gürtel hatte und lose um ihren Körper hing.
    Er war in diesem Sommer vierzehn Jahre alt.
    Jede Sekunde, die er diese Frau auf dem Postamt bei

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