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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Ihnen das alles zu erzählen. Ich bin eine lächerliche Figur. Gott hat mir manchen Streich gespielt, und je mehr Sie davon wissen, desto besser werden Sie meine Filme verstehen. Ich freue mich schon darauf, was Sie dazu zu sagen haben werden, Zimmer. Ihre Meinung ist mir sehr wichtig.
    Ich habe von Filmen keine Ahnung.
    Aber Sie beschäftigen sich mit der Kunst anderer Menschen. Auch diese Bücher habe ich gelesen. Ihre Übersetzungen, Ihre Essays über Dichter. Es ist kein Zufall, dass Sie sich jahrelang mit Rimbaud befasst haben. Sie verstehen, was es heißt, sich von einer Sache abzuwenden. Ich bewundere Menschen, die so denken können. Das macht Ihre Meinung so wichtig für mich.
    Bis jetzt haben Sie es ohne die Meinung anderer geschafft. Woher dieses plötzliche Bedürfnis zu erfahren, was andere denken?
    Weil ich nicht allein bin. Hier leben noch andere, und ich darf nicht nur an mich selbst denken.
    Nach allem, was ich weiß, haben Sie und Ihre Frau immer zusammengearbeitet.
    Ja, das stimmt. Aber Alma ist ja auch noch da.
    Die Biographie?
    Ja, das Buch, an dem sie arbeitet. Nach dem Tod ihrer Mutter glaubte ich, ihr das schuldig zu sein. Alma besitzt so wenig, und ich hielt es für lohnend, einige meiner Gedanken über mich selbst preiszugeben, wenn sie dadurch die Chance bekäme, im Leben voranzukommen. Ich habe angefangen, mich wie ein Vater zu benehmen. Nicht das Schlechteste, was mir passieren konnte.
    Ich denke, Charlie Grund ist ihr Vater.
    Richtig. Aber ich bin ebenfalls ihr Vater. Alma ist das Kind dieser Ranch. Wenn sie aus meinem Leben ein Buch machen kann, wird es ihr vielleicht einmal besser gehen. Immerhin ist es eine interessante Geschichte. Eine dumme Geschichte, mag sein, aber nicht ohne interessante Momente.
    Sie sagen, Ihr Schicksal kümmert Sie nicht mehr, Sie haben aufgegeben.
    Mein Schicksal hat mich noch nie gekümmert. Warum sollte es mich stören, anderen als Beispiel hingestellt zu werden? Vielleicht bringt es sie zum Lachen. Das wäre kein schlechtes Resultat - die Leute noch einmal zum Lachen zu bringen. Sie haben gelacht, Zimmer. Vielleicht werden andere in Ihr Gelächter einstimmen.
    Wir kamen gerade erst in Schwung, unser Gespräch lief gerade erst an, doch ehe ich auf Hectors letzte Bemerkung antworten konnte, trat Frieda ins Zimmer und berührte mich an der Schulter.
    Ich denke, wir sollten ihn jetzt ausruhen lassen, sagte sie. Sie können morgen früh weiterreden.
    Es war demoralisierend, so unterbrochen zu werden, aber ich konnte natürlich nicht widersprechen. Frieda hatte mir weniger als fünf Minuten mit ihm gewährt, und schon hatte er mich für sich gewonnen, schon war er mir sympathischer geworden, als ich je für möglich gehalten hätte. Wenn ein Sterbender über solche Macht gebietet, sagte ich mir, wie muss er dann erst auf der Höhe seiner Kräfte gewesen sein.
    Ich weiß, dass er noch etwas sagte, bevor ich aus dem Zimmer ging, kann mich aber an den Wortlaut nicht erinnern. Etwas Einfaches und Höfliches, aber was genau, habe ich vergessen. Fortsetzung folgt, das könnte es gewesen sein, oder aber Bis morgen, Zimmer, eine alltägliche Phrase, die nichts wirklich Wichtiges aussagte - außer vielleicht, dass er noch an eine Zukunft glaubte, so kurz diese Zukunft auch sein mochte. Als ich aufstand, packte er mich am Arm. Das weiß ich noch genau. Ich erinnere mich an den kalten, krallenartigen Druck seiner Hand, und wie ich bei mir dachte: Das ist Realität. Hector Mann lebt, und seine Hand berührt mich. Ich erinnere mich auch, dass ich mir sagte: Du darfst diese Hand nicht vergessen. Wenn er den nächsten Tag nicht mehr erlebte, wäre diese Berührung der einzige Beweis dafür, dass ich ihn lebendig gesehen hatte.
    Auf diese ersten hektischen Minuten folgte eine Ruhephase von mehreren Stunden. Frieda blieb oben, wachte auf dem Stuhl, auf dem ich während meines Besuchs bei Hector gesessen hatte, und Alma und ich gingen nach unten in die Küche, einen großen, hell erleuchteten Raum mit Steinwänden, einem Kamin und einer Reihe alter Gerätschaften, die aus den frühen sechziger Jahren zu stammen schienen. Es gefiel mir dort, es gefiel mir, neben Alma an dem langen Holztisch zu sitzen und ihre Hand auf meinem Arm zu spüren, genau dort, wo Hector mich nur Augenblicke zuvor angefasst hatte. Zwei verschiedene Gesten, zwei verschiedene Erinnerungen - eine auf der anderen. Meine Haut war zu einem Palimpsest flüchtiger Sinneseindrücke geworden, und jede Schicht trug

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