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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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simple Tatsache, dass er einen Körper hatte. Bis ich ihn dort auf dem Bett liegen sah, hatte ich offenbar nie so richtig an ihn geglaubt. Jedenfalls nicht als wirklich lebenden Menschen, nicht so, wie ich an Alma und mich glaubte, nicht so, wie ich an Helen oder Chateaubriand glaubte. Verblüfft musste ich zugeben, dass Hector Hände und Augen hatte, Fingernägel und Schultern, einen Hals und ein linkes Ohr - dass er real und kein Phantasiegeschöpf war. Er hatte so lange in meinem Kopf gelebt, dass es mir unbegreiflich schien, dass er auch anderswo existieren konnte.
    Die knochigen Hände voller Leberflecken; die knotigen Finger; die dicken, vortretenden Adern; das welke Fleisch unter seiner Haut; der halb geöffnete Mund. Als ich das Zimmer betrat, lag er, die Arme neben sich, auf dem Rücken, war aber wach und starrte wie in Trance an die Decke. Als er mir den Kopf zuwandte, sah ich, dass er Hectors Augen hatte. Gefurchte Wangen, faltige Stirn, runzliger Hals, weiße Haarbüschel - und doch erkannte ich das Gesicht als Hectors Gesicht. Es war sechzig Jahre her, dass er den Schnurrbart und den weißen Anzug getragen hatte, aber er war noch nicht ganz verschwunden. Er war alt geworden, unendlich alt, aber ein Teil von ihm war noch da.
    Zimmer, sagte er. Setzen Sie sich neben mich, Zimmer, und machen Sie das Licht aus.
    Seine Stimme war schwach und belegt, ein leises Gekrächze voller Seufzer und halb artikulierter Laute, aber laut genug, dass ich ihn verstehen konnte. Das R am Ende meines Namens rollte er ein wenig, und als ich die Hand ausstreckte und die Lampe auf dem Nachttisch ausmachte, fragte ich mich, ob es für ihn nicht einfacher wäre, wenn wir auf Spanisch weitersprachen. Als das Licht aus war, bemerkte ich eine zweite Lampe ganz hinten in einer Ecke des Zimmers - eine Stehlampe mit breitem Pergamentschirm - und daneben eine Frau. Sie hatte auf einem Stuhl gesessen und erhob sich jetzt, als ich zu ihr hinübersah, und als sie das tat, muss ich leicht zusammengezuckt sein -nicht nur vor Schreck, sondern weil sie winzig klein war, so klein wie der Mann, der uns die Haustür aufgemacht hatte. Die beiden maßen höchstens eins dreißig. Ich glaubte Hector hinter mir lachen zu hören (ein mattes Keuchen, die geflüsterte Andeutung eines Lachens), dann nickte die Frau mir schweigend zu und ging aus dem Zimmer.
    Wer war das?, fragte ich.
    Kein Grund zur Unruhe, sagte Hector. Sie heißt Conchita. Sie gehört zur Familie.
    Ich hatte sie nur nicht gesehen. Das hat mich überrascht.
    Ihr Bruder Juan wohnt auch hier. Es sind kleine Leute. Seltsame kleine Leute, die nicht sprechen können. Wir sind auf sie angewiesen.
    Soll ich das andere Licht auch ausmachen?
    Nein, so ist es gut. Nicht so grell für meine Augen. Ich bin zufrieden.
    Ich setzte mich auf den Stuhl neben dem Bett und beugte mich vor, um ihn möglichst gut hören zu können. Das Licht aus dem Hintergrund des Zimmers war nicht stärker als das einer Kerze, aber hell genug, dass ich Hectors Züge erkennen und ihm in die Augen sehen konnte. Ein bleicher Schein hing über dem Bett, ein gelblicher Schimmer, der sich mit Schatten und Dunkelheit mischte.
    Es ist immer zu früh, sagte Hector, aber ich habe keine Angst. Ein Mann wie ich muss zerschmettert werden. Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind, Zimmer. Ich habe nicht damit gerechnet.
    Alma war sehr überzeugend. Sie hätten sie schon viel früher zu mir schicken sollen.
    Sie haben mich tief erschüttert, Sir. Anfangs konnte ich nicht akzeptieren, was Sie getan haben. Jetzt bin ich froh darüber.
    Ich habe gar nichts getan.
    Sie haben ein Buch geschrieben. Ich habe dieses Buch wieder und wieder gelesen und mir jedes Mal die Frage gestellt: Wie sind Sie auf mich gekommen? Was haben Sie damit bezweckt, Zimmer?
    Sie haben mich zum Lachen gebracht. Das war alles. Sie haben etwas in mir aufgebrochen, und danach sind Sie für mich zum Vorwand geworden weiterzuleben.
    Davon steht in Ihrem Buch nichts. Es sagt viel Gutes über meine alten Schnurrbart-Filme, aber nichts über Sie selbst.
    Es ist nicht meine Art, von mir zu reden. Das ist mir unangenehm.
    Alma hat von großem Leid erzählt, von unnennbarem Schmerz. Wenn ich Ihnen geholfen habe, diesen Schmerz zu ertragen, ist das vielleicht das Beste, was ich jemals getan habe.
    Ich wollte nur noch tot sein. Aus dem, was Alma mir heute Nachmittag erzählt hat, kann ich schließen, dass Sie selbst auch schon einmal so weit gewesen sind.
    Alma hat recht daran getan,

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