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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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gesagt hat. Eben das macht seine Geschichte so unmöglich, David. Weil er mir die Wahrheit gesagt hat.

7
    In dieser Nacht stand kein Mond am Himmel. Als ich aus dem Auto stieg und die Füße auf den Boden setzte, sagte ich mir: Almas Lippenstift ist rot, das Auto ist gelb, und heute Nacht ist kein Mond am Himmel. In der Dunkelheit hinter dem Haupthaus konnte ich gerade noch die Umrisse von Hectors Bäumen erkennen - große Schattenmassen, die sich im Wind bewegten.
    Die Erinnerungen eines Toten beginnen mit einer Passage über Bäume. Daran musste ich denken, als wir uns der Haustür näherten und ich mich an meine Übersetzung des dritten Absatzes von Chateaubriands Zweitausend-Seiten-Buch zu erinnern versuchte, den Absatz, der mit den Worten Ce lieu me plaît; il a remplacé pour moi les champs paternels beginnt und mit den folgenden Sätzen endet: Ich hege zärtliche Zuneigung zu meinen Bäumen; ich habe ihnen Elegien, Sonette und Oden gewidmet; es gibt keinen einzigen unter ihnen, den ich nicht mit eigenen Händen gepflegt, den ich nicht von dem Wurm an seiner Wurzel, von der Raupe auf seinen Blättern befreit hätte; ich kenne sie alle bei Namen, als wären es meine Kinder; sie sind meine Familie, ich habe keine andere, und ich hoffe in ihrer Mitte zu sterben.
    Ich hatte nicht damit gerechnet, ihn an diesem Abend zu sehen. Als Alma vom Flughafen aus anrief, hatte Frieda ihr gesagt, Hector werde wahrscheinlich schon schlafen, wenn wir auf der Ranch ankämen. Er halte noch durch, sagte sie, aber sie nehme an, er werde erst am nächsten Morgen mit mir sprechen können - vorausgesetzt, er lebe noch so lange.
    Elf Jahre später frage ich mich immer noch, was wohl geschehen wäre, wenn ich einfach umgekehrt wäre, bevor wir die Tür erreicht hatten. Was, wenn ich, statt Alma meinen Arm um die Schulter zu legen und mit ihr zum Haus zu gehen, kurz stehen geblieben wäre, einen Blick auf die andere Hälfte des Himmels geworfen und entdeckt hätte, dass ein großer runder Mond auf uns herabschien? Wäre es dann immer noch richtig zu sagen, dass in dieser Nacht kein Mond am Himmel stand? Hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, mich umzudrehen und hinter mich zu blicken, dann: ja, dann wäre es immer noch wahr. Wenn ich den Mond nicht gesehen habe, dann war der Mond auch nicht da.
    Ich will damit nicht sagen, dass ich mir keine Mühe gegeben habe. Ich hielt die Augen offen, ich versuchte alles in mich aufzunehmen, was um mich her passierte, aber zweifellos ist mir doch eine Menge entgangen. Ob es mir gefällt oder nicht, ich kann nur von dem schreiben, was ich gesehen und gehört habe - nicht von dem, was ich nicht wahrgenommen habe. Damit gebe ich keineswegs irgendein Versäumnis zu, sondern beschreibe nur meine Vorgehensweise, meine Prinzipien. Wenn ich den Mond nicht gesehen habe, dann war der Mond auch nicht da.
    Keine Minute nachdem wir das Haus betreten hatten, führte Frieda mich zu Hectors Zimmer im ersten Stock. Ich hatte gerade Zeit, mich flüchtig umzusehen, einige winzige erste Eindrücke aufzunehmen - ihr kurz geschorenes weißes Haar, ihren festen Griff, als sie mir die Hand schüttelte, ihre müden Augen -, und ehe ich irgendetwas von dem sagen konnte, was ich eigentlich hätte sagen sollen (Danke für die Einladung; ich hoffe, es geht ihm besser), teilte sie mir mit, dass Hector noch wach sei. Er würde mich jetzt gerne sehen, sagte sie, und plötzlich sah ich nur noch ihren Rücken, als sie mir voran die Treppe hinaufstieg. Keine Zeit also, irgendwelche Beobachtungen über das Haus anzustellen - außer dass es groß war und schlicht möbliert und dass viele Zeichnungen und Gemälde an den Wänden hingen (die von Frieda stammen mochten oder auch nicht) -, keine Zeit, mir über den merkwürdigen Menschen Gedanken zu machen, der uns geöffnet hatte, einen Mann, der so klein war, dass ich ihn erst bemerkte, als Alma sich bückte und ihn mit einem Kuss auf die Wange begrüßte. Gleich darauf war Frieda erschienen, und ich erinnere mich zwar, dass die beiden Frauen einander umarmten, wüsste aber nicht zu sagen, ob Alma neben mir war, als ich die Treppe hinaufging. An dieser Stelle entschwindet sie mir jedes Mal; ich durchforste mein Gedächtnis, kann sie aber einfach nicht finden. Wenn ich oben angekommen bin, ist auch Frieda verschwunden. Es kann nicht so gewesen sein, aber in meiner Erinnerung ist es so. Wenn ich mich in Hectors Zimmer treten sehe, bin ich jedes Mal allein.
    Am meisten erstaunte mich wohl die

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