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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Gelenken, und da wir auf den Anblick dieses schlummernden Brezelmanns überhaupt nicht vorbereitet sind, müssen wir lachen, und mit diesem Lachen ändert sich wiederum die
    Stimmung des Films. Die herzlich Geliebte erwacht als Erste, und als sie die Augen aufschlägt und sich aufrichtet, sagt ihre Miene uns alles - Freude, ungläubiges Staunen und vorsichtiger Optimismus wechseln in rascher Folge. Sie springt aus dem Bett und läuft zu Hector hin. Als sie sein Gesicht berührt (das über die Armlehne des Sessels nach hinten gekippt ist), zuckt Hectors Körper krampfhaft auf wie von heftigen Stromschlägen, Arme und Beine zappeln durcheinander, bis er sich endlich in aufrechter Haltung wiederfindet. Nun erst macht er die Augen auf. Unwillkürlich, als habe er vergessen, dass er unsichtbar sein müsste, lächelt er seine Frau an. Sie küssen sich, doch gerade als ihre Lippen sich berühren, weicht er verwirrt zurück. Ist er wirklich da? Ist der Zauber gebrochen, oder träumt er das nur? Er befühlt sein Gesicht, er streicht sich über den Brustkasten, dann sieht er seiner Frau in die Augen. Kannst du mich sehen?, fragt er. Natürlich kann ich dich sehen, sagt sie; ihre Augen füllen sich mit Tränen, sie beugt sich vor und gibt ihm einen Kuss. Aber Hector ist noch nicht überzeugt. Er steht auf und geht zu einem Spiegel an der Wand. Der Spiegel muss den Beweis liefern, wenn er sich dort sehen kann, ist der Albtraum mit Sicherheit vorbei. Dass er sich tatsächlich dort sieht, war zu erwarten, aber das Schöne an diesem Augenblick ist die Langsamkeit seiner Reaktion. Ein, zwei Sekunden lang bleibt seine Miene unverändert, und wie er dem Mann, der ihm da aus dem Spiegel entgegenstarrt, in die Augen sieht, könnte man meinen, er betrachte einen Fremden, er begegne dem Gesicht eines Mannes, den er noch niemals gesehen hat. Die Kamera fährt näher an ihn heran, und jetzt beginnt er zu lächeln. Da es unmittelbar auf diese schaurige Verständnislosigkeit folgt, deutet das Lächeln auf mehr als bloßes Wiedererkennen. Er sieht dort nicht mehr den alten Hector. Er ist jetzt ein anderer; gewiss, er sieht seinem ehemaligen Ich überaus ähnlich, und doch ist er vollkommen verwandelt, umgekrempelt, ein neuer Mensch. Das Lächeln wird breiter, strahlender, zufriedener mit dem Gesicht, das in diesem Spiegel aufgetaucht ist. Ein Kreis zieht sich darum zu, und bald sehen wir nur noch diesen lächelnden Mund, den Mund und den Schnurrbart darüber. Der Schnurrbart zuckt einige Sekunden, dann wird der Kreis kleiner und immer kleiner. Schließlich bleibt nur noch ein Punkt, und der Film ist zu Ende.
    Mit diesem Lächeln endet praktisch auch Hectors Karriere. Um seinen Vertrag zu erfüllen, hat er zwar noch einen Film produziert, aber Doppelt oder nichts kann nicht als neues Werk gezählt werden. Kaleidoscope stand schon kurz vor dem Bankrott, und für einen weiteren richtigen Film war einfach nicht mehr genug Geld vorhanden. Stattdessen suchte Hector verworfenes Material aus früheren Filmen hervor und stellte die Schnipsel zu einer Sammlung von Gags, Klamauk und Slapstick-Improvisationen zusammen. Als Verwertung von Altmaterial war dies raffiniert genug, aber wir lernen daraus allenfalls etwas über Hectors Talente am Schneidetisch. Wenn wir sein Werk fair beurteilen wollen, müssen wir Ein Niemand als seinen letzten Film ansehen. Hier setzt er sich mit seinem Verschwinden auseinander, und trotz aller Vieldeutigkeit und versteckter Anspielungen, trotz aller moralischen Fragen, die er aufwirft, um sie dann doch nicht zu beantworten, handelt dieser Film im Wesentlichen von den Qualen der Individualität. Hector sucht nach einem Weg, sich von uns zu verabschieden, der Welt Lebwohl zu sagen, und um dies zu tun, muss er sich vor sichtig selbst verschwinden lassen. Er wird unsichtbar, und als der Zauber sich schließlich verliert und er wieder sichtbar wird, erkennt er sein eigenes Gesicht nicht mehr. Wir sehen ihn, wie er selbst sich sieht, und mit dieser unheimlichen Verdoppelung der Perspektive werden wir zu Zeugen seiner Konfrontation mit der Tatsache der eigenen Auslöschung. Doppelt oder nichts. Diese Wendung wählte er als Titel für seinen nächsten Film, doch hat sie nicht einmal entfernt etwas mit dem zu tun, was uns in diesem achtzehnminütigen Mischmasch aus Kunststückchen und Kapriolen geboten wird. Vielmehr verweist dieser Titel auf die Spiegelszene in Ein Niemand zurück, auf Hectors merkwürdiges Lächeln, das uns ahnen

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