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Das Buch der Illusionen

Das Buch der Illusionen

Titel: Das Buch der Illusionen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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einen gewissen Raum einzunehmen habe - was bedeutete, dass jeder notwendig irgendwo sein musste -, warum konnte dann dieses Irgendwo nicht auch Sandusky heißen? Als Hector drei Tage später aus dem Koma erwachte und mit den Ärzten zu reden anfing, besuchte ihn Frieda im Krankenhaus, um sich zu bedanken. Er konnte nicht viel sagen, aber das Wenige, was er sagte, hatte eindeutig einen ausländischen Akzent. Die Stimme nahm ihr den letzten
    Zweifel, und als sie sich, kurz bevor sie aus dem Krankenzimmer ging, über ihn beugte und ihm einen Kuss auf die Stirn gab, war sie felsenfest davon überzeugt, dass Hector Mann ihr das Leben gerettet hatte.

6
    Die Landung bereitete mir weniger Probleme als der Start. Ich hatte mich darauf vorbereitet, Angst zu haben, wieder einmal schlotternde Ohnmacht und geistiges Versagen in höchster Potenz zu erleben, doch als der Pilot ankündigte, wir würden nun in den Sinkflug übergehen, fühlte ich mich eigenartig stabil und ruhig. Offenbar ist es nicht dasselbe, stellte ich fest, ob man aufsteigt oder absteigt, ob man den Kontakt zur Erde verliert oder auf festen Boden zurückkehrt. Das eine ist ein Abschied, das andere eine Begrüßung, und vielleicht, dachte ich, ist ein Anfang leichter zu ertragen als ein Ende, oder ich hatte schlicht und einfach herausgefunden, dass die Toten in mir nicht mehr als einmal am Tag zu schreien anfangen dürfen. Ich drehte mich zu Alma um und packte ihren Arm. Sie war gerade am Anfang von Hectors Romanze mit Frieda angekommen, hatte von der Nacht erzählt, als er zusammenbrach und ihr alles beichtete, und Friedas verblüffende Reaktion auf diese Beichte geschildert (Die Kugel spricht dich frei, sagte sie; du hast mir mein Leben zurückgegeben, und jetzt gebe ich dir dein Leben zurück), aber als ich Alma die Hand auf den Arm legte, hörte sie plötzlich auf zu reden, unterbrach sich mitten im Satz, mitten im Gedanken. Sie lächelte, beugte sich vor und küsste mich - erst auf die Wange, dann aufs Ohr, und schließlich auf den Mund. Die beiden waren einander total verfallen, sagte sie. Wenn wir nicht aufpassen, wird es uns genauso gehen.
    Diese Worte waren sicher auch nicht ohne Bedeutung -sie halfen mir, meine Angst zu beschwichtigen, meine innere Auflösung zu verhindern -, aber erstaunlich war, wie präzise das Wort fallen meine Geschichte der vergangenen drei Jahre zusammenfasste. Ein Flugzeug fällt vom Himmel, und alle Passagiere kommen ums Leben. Eine Frau verfällt einem Mann, und der Mann verfällt ihr, und während sie mit dem Flugzeug dem Boden entgegensinken, denken beide nicht eine Sekunde lang an den Tod. Hoch in der Luft, unter uns die beim Schwenk zum Landeanflug kreisende Erde, begriff ich, dass Alma mir die Chance auf ein neues Leben eröffnete, dass vor mir noch etwas lag -ich musste nur den Mut aufbringen, darauf zuzugehen. Ich lauschte dem Gesang der Motoren, ihren Tonartwechseln. Das Geräusch in der Kabine schwoll an, die Wände bebten, und dann, fast wie ein nachträglicher Schlusspunkt, setzten die Räder der Maschine auf dem Boden auf.
    Es dauerte eine Weile, ehe wir weitermachen konnten. Alles brauchte Zeit: Das Aufschwingen der hydraulischen Tür, der Gang durch den Terminal, das Aufsuchen der Herren- und der Damentoilette, die Suche nach einem Telefon, um auf der Ranch anzurufen, Wasser für die Fahrt nach Tierra del Sueño kaufen (Trink, so viel du kannst, sagte Alma; die Höhe hier ist trügerisch, und du willst doch nicht austrocknen), den Langzeitparkplatz nach Almas Subaru-Kombi absuchen, bis wir dann endlich tanken und uns auf den Weg machen konnten. Es war das erste Mal, dass ich in New Mexico war. Unter normalen Umständen hätte ich die Landschaft bestaunt, auf Felsformationen und verrückt aussehende Kakteen gezeigt, mich nach dem
    Namen dieses Bergs oder jenes knorrigen Strauchs erkundigt, aber jetzt steckte ich zu tief in Hectors Geschichte, um mich mit so etwas abzugeben. Alma und ich fuhren durch eine der eindrucksvollsten Landschaften Nordamerikas, aber wir hätten ebenso gut bei zugezogenen Vorhängen und ohne Licht in irgendeinem Zimmer sitzen können. Ich bin die Strecke in späteren Zeiten noch mehrmals gefahren, aber von dem, was ich bei diesem ersten Mal gesehen habe, ist mir so gut wie nichts im Gedächtnis geblieben. Wenn ich an diese Fahrt in Almas verbeultem gelbem Auto zurückdenke, erinnere ich mich nur an den Klang unserer Stimmen - ihrer Stimme und meiner Stimme, meiner Stimme und ihrer Stimme -

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