Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
Turm, den er mir einmal beschrieben hatte. Der Turm ist es, der Turm.“ Aus Rouvens Augen löste sich eine Träne. Richmon hockte sich ihm gegenüber. Wie es sein Vater bei ihm am Mittag getan hatte, ließ er nun die Träne auf seinen Finger rollen.
„Erzähl mir davon, Rouven“, forderte er ihn mit zarter Stimme auf. Rouven machte einen Schritt zurück. Sein Kopf bewegte sich von einer Seite zur anderen.
„Du kannst mir vertrauen, Rouven.“ Richmon reichte ihm seine Hand. Rouven machte nochmals einen Schritt zurück.
„Dein Freund will ich sein, Rouven. Nur dein Freund.“ Ein warmes Lächeln strahlte Rouven entgegen. Rouven hielt seinen Blick auf den Boden gerichtet. Nach einiger Zeit erhob er seinen Kopf. Die Tränen waren verschwunden. Langsam, sehr langsam nickte er.
„Du wirst es nicht bereuen“, beteuerte Pater Richmon erfreut.
„Das Bild“, sagte nun Rouven. „Sag mir etwas über das Bild.“
Der Pater richtete sich auf. Seine Augenbrauen zogen sich etwas zusammen. Das warmherzige Lächeln verschwand. Mit ernster Miene betrachtete er das Gemälde. Diesesmal war es Rouven, der beobachtete.
„Einverstanden“, sagte dann Richmon. Er wandte sich wieder Rouven zu. „Du sollst die Bedeutung über dieses Bild erfahren.“
Der Pater stützte sich mit beiden Händen auf der steinernen Platte des Altares ab.
„Damals, zu der Zeit, als dieses Kloster gegründet wurde“, begann er zu erzählen, „gab es einen jungen, begabten Mönch. Er besaß Fähigkeiten, die von seinen Mitmenschen beneidet, zeitweise auch mißbraucht wurden. Ständig war er auf der Flucht vor solchen Menschen, die von seinen Fähigkeiten Kenntnis bekommen hatten. Dieser Umstand bewegte ihn auch dazu, den Weg des Geistlichen einzuschlagen. Tagelang ist er auf solch einer Flucht unterwegs gewesen, ohne etwas gegessen oder getrunken zu haben. Sein eiserner Glaube an das Höhere verhalf ihm immer wieder, neuen Mut zu schöpfen. Laute Rufe und Schreie machten ihn aufmerksam. Er folgte ihnen und traf mitten im Wald mehrere Menschen an, die eben im Begriff waren, einen schweren Baumstamm auf die Seite zu hieven. Sie waren gekleidet wie er. Daraus schloß er, daß sie ebenfalls Mönche waren. Sie stellten sich sehr ungeschickt bei ihrer Arbeit an. Als sie ihn bemerkten, ließen sie sofort von dem Baumstamm ab. Sie sahen, daß er an Erschöpfung litt. Der Älteste von ihnen konnte ihn gerade noch auffangen. Zwei Tage lang hatte er darauf ununterbrochen geschlafen. – In diesem Kloster ist er wieder zu Bewußtsein gekommen. Sie waren nett und zuvorkommend zu ihm. Erst wollte er sich nur noch einige Zeit ausruhen, um dann seine ungewisse Reise fortzusetzen. Doch sie überredeten ihn dazu, bei ihnen zu bleiben. Nach langem Überlegen tat er dies dann auch. Es sprach ja auch nichts dagegen. Niemand wußte von seinem Geschick. Hin und wieder half er den Glaubensbrüdern mit guten Ratschlägen. Aber niemals wollte er sein Inneres offenbaren. Jahre vergingen, ohne daß er erkannt wurde. Heimlich begann er, ein Buch über sein Leben zu schreiben. Ein Buch, das all seine Geheimnisse lüftete. Ein Buch, das nur sehr wenige Menschen verstehen werden. Jedoch wurde er dabei beobachtet. Zu Zeiten, wenn er nicht anwesend war, las einer der Glaubensbrüder das Niedergeschriebene. Eines Tages wurde der Glaubensbruder wahnsinnig. Aus irgendeinem Grunde hatte er den Verstand verloren. Der Mönch wußte sofort, was geschehen war. Er sagte aber nichts. Bis zu dem Zeitpunkt, als der Wahnsinnige über seine Entdeckung zu erzählen begann. Der Mönch erkannte die Gefährlichkeit seines Werkes. Um noch Schlimmeres zu verhindern, versteckte er das Buch. Darauf bestieg er in der Nacht den Turm. Am anderem Morgen wurde der Mönch tot auf dem Pflaster aufgefunden. Er hatte sich in jener Nacht das Leben genommen. Am darauffolgenden Tag begann der Wahnsinnige dieses Bild zu malen. In erstaunlicher Schnelligkeit vollbrachte er dieses Werk, obwohl er zuvor niemals einen Pinsel in den Händen gehalten hatte. Wenige Wochen später erlag er einem Herzversagen. Zuvor jedoch hatte er versucht, seine Entdeckung weiterzugeben. Irgend jemand schrieb seine Worte damals nieder. Daher weiß man heute von diesem Buch, daß es nur einmal gelesen wurde. Und jener, der es gelesen hatte, mußte es mit seinem Verstand bezahlen.“ Hier endete der Pater seine Erzählung. Rouven hatte ihm aufmerksam zugehört. Immer wieder wanderte sein Blick in die Richtung des Gemäldes.
„Woher
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