Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
Luftzug wurde stärker, kühler. Ellinoy kniete sich vor dem Tisch auf den Steinboden. Die Luft roch moderig. Auf einmal hämmerte es wieder gegen die Eichentür. Diesmal um einiges stärker. Ellinoy schob das Tuch zur Seite.
„Sieh mal!“ rief er aus. Dumpkin blickte unter den Altar. Ein dunkles quadratisches Loch gähnte ihnen entgegen. Groß genug, um hindurchschlüpfen zu können. Auf der hinteren Seite der Öffnung lag ein zusammengerollter Teppich.
„Ich werd nicht alle“, staunte Dumpkin. Zum dritten Mal klopfte es gegen den Eingang. Jäh sprangen sie auf. Einen Augenblick sahen sie sich an. Über Dumpkins Gesicht flog ein Grinsen, dann rannten sie los. Dumpkin zog an der schweren Eichentür.
„Gott sei Dank, sie ist nicht verschlossen“, überkam es ihn erleichtert. Ohne laute Geräusche zu verursachen, ließ Ellinoy die Tür von außen vorsichtig ins Schloß fallen. Dumpkin spähte um sich. Niemand war zu sehen. Auch Champy nicht.
„Champy“, rief er leise. Keine Antwort. Nur das entfernte Rufen einer Eule war zu hören.
„Champy“, rief er nochmals in eine andere Richtung. Nichts.
„Er ist noch nicht zurück“, sagte Ellinoy.
„Wer hat dann geklopft?“ Dumpkin wischte sich das Haar aus dem Gesicht. „Verdammt noch mal, irgendwas ist faul!“
„Gehen wir zu Showy!“ Ellinoy schritt voraus. Dicht an der Mauer der Kirche entlang schlichen sie sich auf die andere Seite. Erst als sie in die Nähe des Holzverschlages kamen, erblickten sie Showy. Regungslos lag er unter dem Baum. Bestürzt eilten sie zu ihm. Dumpkin kniete sich nieder. Erleichtert und verärgert zugleich wandte er sich zu Ellinoy.
„Er schläft“, flüsterte er ihm zu. Unsanft begann er Showy wachzurütteln. Verstört blickte er auf.
„Was – was – ist?“ fragte er verwirrt. Dumpkin und Ellinoy sahen ihn nur an.
„O du verdammte Scheiße!“ fluchte Showy. „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“
„Wie lange schläfst du schon?“ wollte Dumpkin als allererstes wissen. Showy zuckte nur mit der Schulter. Eine Antwort gab er nicht.
„Wo ist Champy?“ fragte Ellinoy.
Showy stützte sich auf dem Boden ab, um aufzustehen. Ein gellender Schrei ließ sie zusammenzucken. Entsetzt blickten sie sich gegenseitig an.
„Champy!“, kam es wie aus einem Mund. Der Schrei drang eindeutig aus der Richtung des Lehrerhauses zu ihnen. Schritte, schnelle Schritte klangen über das Pflaster. Keine Minute war vergangen, da sahen sie Champy direkt auf den Baum zurennen, unter dem sie sich befanden. Ellinoy ging ihm einige Meter entgegen. Abrupt blieb der Chinese stehen. Mit aufgerissenen Augen starrte er Ellinoy an.
„Was ist geschehen?“ fragte ihn Ellinoy leise. Champy zitterte am gesamten Leib. Sein Gesicht war aschfahl angelaufen. Champy sagte nichts. Langsam erhob er seine rechte Hand. Blut tropfte daran herunter. Ellinoy fuhr entsetzt zurück. Champys Ringfinger, er fehlte.
*
Eine Hand packte Champy an den Fingern, als er nach dem Brief greifen wollte, der vor dem Lehrerhaus auf der Erde lag. Champy versuchte zurückzuweichen. Qualvoll zuckte der Schmerz durch seinen Arm. Blut spritzte. Champy betrachtete seine Hand. Ein markdurchdringender Schrei entfuhr ihm. Auf dem Boden lag sein rechter Ringfinger. Der Brief war verschwunden. Sowie der Fremde, der ihm den Finger abgerissen hatte.
Schweißgebadet erwachte Champy aus einem tiefen Schlaf. Immer wieder wurde er im Traum von diesem schrecklichen Erlebnis verfolgt. Der Brief, die Hand, der Schmerz, der ständig in seiner Hand pochte. Schwester Maria saß an seinem Bett. Mit einem kalten Waschlappen wischte sie ihm den Schweiß von der Stirn. Dr. Kindel hatte ihm die klaffende Wunde zugenäht. Zweimal die Woche besuchte Dr. Kindel das Internat. Er hatte der Schwester genaue Instruktionen gegeben, wie sie den Jungen weiter zu behandeln habe.
Champy blickte in das Gesicht von Schwester Maria. Sein rechter Arm lag angewinkelt auf der Brust, damit sich das Blut nicht stauen konnte. Langsam senkte er die Augen. Sein Blick fiel auf seine rechte Hand. Sie war vollkommen eingebunden. Fragend sah er wieder zu der Schwester. Schwester Maria nickte nur. Obwohl Champy es ahnte, versetzte es ihm doch einen Stich in die Magengegend.
Die Zimmertür wurde geöffnet. Sallivan betrat den Raum. Schwester Maria erhob sich von ihrem Platz.
„Er ist soeben zu sich gekommen“, flüsterte sie. Sallivan sah an Schwester Maria vorbei auf Champy. Geräuschvoll schloß er hinter sich die
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