Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
war der Fremde, der den Brief vor das Lehrerhaus geworfen hatte?“ Er blickte von einem zum anderen, als würde er eine Antwort von ihnen erwarten. Langsam brachte er sein Taschenmesser hervor. Ein Springmesser. Durch einen leichten Knopfdruck ließ er die Klinge aus dem Schaft schnellen. Feierlich, als handle es sich um einen kostbaren Gegenstand, schlitzte er eine Seite des Umschlages auf. Noch langsamer zog er das Papier heraus. Ellinoy und Showy folgten mit wachsender Spannung jeder seiner Bewegungen.
„Diesen Brief wirst du nicht lesen, Rotschopf!“ zischte Dumpkin. Nur mit den Fingerspitzen faltete er das Blatt auseinander. Beidseitig war es mit schwarzer Tinte beschrieben. Die Buchstaben eng beieinander, dennoch gut leserlich.
Dumpkin wollte gerade beginnen, den Brief vorzulesen. Plötzlich drang ein entfernter langgezogener Schrei an ihre Ohren. Erschrocken sahen sie sich gegenseitig an. Geraume Zeit verstrich. Nachdem kein Laut mehr zu vernehmen war, wandte sich Dumpkin achselzuckend wieder dem Schreiben zu. Leise, dennoch deutlich, begann er zu lesen.
Hallo Rouven, mein geliebter Sohn,
wundere Dich nicht, wenn Du diesen Brief zweimal bekommst. Sollte es jedoch nicht der Fall sein, so sei in Zukunft auf der Hut. Leider gibt es keine andere Möglichkeit, Dir etwas sehr Wichtiges mitzuteilen. Auch wenn die Gefahr dabei besteht, daß andere, Fremde, diese Zeilen zu Gesicht bekommen.
Erinnerst Du Dich noch an den Traum, von dem ich Dir vor nicht allzulanger Zeit erzählt hatte? Bestimmt weißt Du noch davon. Der Turm ist es, den ich meine. Der Turm, von dem sich ein Mönch geworfen hatte. Jede Nacht träumte ich davon, bis heute. Nun weiß ich warum, Rouven. Ich habe ihn erkannt, den Turm. Er ist es, der Kirchturm in dem Internat, in dem Du untergebracht bist. Über dem Eingang des Turmes befindet sich ein Bild. Ein Gemälde, das einen Knaben und einen Engel darstellt. Der Engel reicht dem Knaben ein Buch. Es ist das Buch der Schatten. Wenn Du das Bild genau betrachtest, wirst Du feststellen, daß der Knabe genauso rotes Haar hat wie Du. Erst letzte Nacht habe ich davon geträumt, von diesem Gemälde. Der Knabe, Rouven, der Knabe bist Du. Ich weiß es ganz genau. Ich fühle, daß Du Rouven, mein Sohn, für das Buch geschaffen bist. Aber nimm Dich in acht vor der Schlange, Rouven. Sie befindet sich am Fuße des Gemäldes. Sie trachtet nach diesem Buch. Sollte das Buch jemals in falsche Hände geraten, so kann dies der Untergang dieser Zeit bedeuten. Denn nur Du wirst begreifen können, was die Zeilen in sich verbergen.
Unter dem Turm befindet sich ein unterirdischer Gang, Rouven. Jedoch weiß ich nicht, wo sich der Einlaß für diesen Gang befindet. Vielleicht auch außerhalb des Internates. Die Mönche hatten früher ihre Klöster mit geheimen Gängen unterbaut. Einige werden im Laufe der Zeit schon eingestürzt sein. Sei daher vorsichtig, wenn Du das Gewölbe betrittst. Das Buch befindet sich genau unter der sechsundsechzigsten Stufe des Turmes. Es dürfte demnach nicht zu schwer sein, es zu finden. Sei aber wachsam! Vergiß nie, daß das Buch nur für deine Sinne bestimmt ist. Sollte je ein anderer Besitz davon erlangen, so wird sehr, sehr Schlimmes geschehen. Dieses Buch verbirgt Macht, finstere Macht. Die Schattenseite dieser Welt steht darin niedergeschrieben. – Das Böse!
Bestimmt stellst Du Dir nun die Frage, woher Dein Vater das alles weiß. Frage nicht danach, Rouven. Folge meinen Worten! Nur Du kannst verhindern, daß diese Schatten das Licht Gottes verdrängen. Das Licht, das die Erde am Leben erhält.
Langsam senkte Dumpkin seine Hand, in der er den Brief hielt. Sprachlos starrten sie sich an.
„Was bedeutet das?“ unterbrach Showy nach einiger Zeit die Stille.
„Ich – ich kann es gar nicht glauben“, erwiderte Ellinoy.
„Wir sind diejenigen, die das Buch besitzen werden. Nicht Rotschopf!“ stieß Dumpkin hervor. „Wir wissen, wo sich der Eingang befindet!“
Ellinoy nickte. „Unter dem Altar“, sagte er leise. „Aber –“, mehrmals blickte er um sich, als hätte er Angst, beobachtet zu werden. „Wir müssen den Brief vernichten. Wenn er bei uns erwischt wird, dann ist es aus.“
„Du hast recht“, stimmte Dumpkin zu. „Aber erst, wenn Champy ihn gelesen hat. Er hat es mehr als verdient. Ihm haben wir es zu verdanken, daß das Buch der Schatten unser sein wird.“
„Und der Fremde?“ flüsterte Showy. „Wer war der Fremde, der den Brief vor das Lehrerhaus
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