Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
Auch Jeremie war von seinem Vater in das Internat abgeschoben worden, nachdem seine Mutter an einem Krebsleiden gestorben war. Dieses gemeinsame Schicksal nutzte Schwester Maria, Rouven mit Jeremie bekannt zu machen.
„Hattest du deine Mutter sehr lieb gehabt?“ fragte Jeremie seinen neuen Freund unerwartet. Rouven fühlte sich durch die Frage wie von einem Blitz getroffen. Sofort füllten sich seine Augen mit Tränen. Jeremie blieb stehen, als er dies bemerkte.
„Tut mir leid, Rouven“, entschuldigte er sich. „Ich wollte nicht, daß du –.“
„Meine Mutter?“ unterbrach ihn Rouven leise. Er wischte sich die Tränen aus den Augen. „Sie war der liebste Mensch.“
„Wir können uns auch über etwas anderes unterhalten“, meinte Jeremie vorsichtig. Rouven blickte von ihm hinüber zur Kirche. Sein Blick wanderte dem Gemäuer entlang. Stufenweise sah er den Kirchturm hinauf.
„Ich möchte auf den Turm“, sagte er spontan.
Jeremie schaute ihn verwundert an. „Auf den Turm?“ wiederholte er.
„Ja, jetzt sofort.“ Rouven löste sich von Jeremie und schritt auf den Eingang der Kirche zu. Jeremie blieb nichts anderes übrig, als zu folgen. Schweigsam betraten sie die Kathedrale. Keine Menschenseele war zu sehen. Sie befanden sich vollkommen allein in der Kirche. Rouven begab sich direkt zu dem Einlaß des Glockenturmes. Vor der Tür blieb er stehen. Das Gemälde, von neuem zog es ihn in seinen Bann. Jeremie stellte sich neben ihn. Für ihn war es ein Bild wie alle anderen. Er konnte nichts dabei empfinden.
„Willst du wirklich hinauf?“ fragte Jeremie mit gedämpfter Stimme. Rouven gab keine Antwort. Unentwegt betrachtete er das Gemälde. Als würde er jeden Pinselstrich einzeln begutachten.
„Was ist an dem Bild so Besonderes?“ wollte Jeremie nach einiger Zeit wissen. Seine Stimme brach sich an den Wänden wieder. Leise kam das Echo zurück.
Rouven wandte sich langsam um. Für einen Augenblick hatte sich sein Gesichtsausdruck verändert. Das Weiche, Verletzbare in seinen Zügen war verschwunden. Jeremie war diese kurzzeitige Veränderung jedoch nicht aufgefallen. Er blickte Rouven nur fragend an.
„Gehen wir“, flüsterte Rouven. Gemächlich öffnete er die Tür. Jeremie sah über seine Schulter hinweg auf die hölzernen Stufen.
„Sollen wir wirklich?“ zögerte er.
„Machen wir ein Wettrennen?“ erwiderte Rouven. Mit großen Augen blickte er seinen Freund an. Jeremie nickte.
Nebeneinander stellten sie sich auf die erste Stufe.
„Bei drei“, sagte Rouven. Jeremie drückte sich seine Brille etwas fester auf die Nase.
„Eins, zwei, drei“, zählte Rouven. Bei drei rannte er los. Zwei Stufen auf einmal nehmend. Jeremie hinterher. Doch schon nach den ersten paar Stufen war ihm Rouven um einiges voraus. Ohne anzuhalten stürmte er nach oben. Als er die letzte Stufe erreichte, hatte Jeremie gerade die Hälfte hinter sich. Vollkommen außer Atem setzte Rouven sich auf den obersten Tritt. Jeremie kämpfte sich nur noch langsam den Turm hinauf. Rouven hatte sich von der Anstrengung schon erholt, als Jeremie endlich aus dem Dunkeln der Treppe hervortrat. Erschöpft ließ Jeremie sich neben Rouven nieder.
„Hätte nie gedacht“, schnaufte er, „daß das so viele sind.“ Zitternd nahm er seine Brille ab. Rouven erhob sich. Vorsichtig näherte er sich einer der Öffnungen. Erschrocken blieb Rouven stehen. Auf einmal bekam er den Eindruck, nicht zum ersten Mal auf diesem Turm gewesen zu sein. An irgend etwas wurde er erinnert. Nur für einen Moment. Doch es genügte, ihn nachdenklich zu stimmen.
„Ganz schön hoch, was?“ riß ihn Jeremie aus seinen Gedanken. Jeremie war aufgestanden. Mit staunenden Blicken begab er sich von einer Öffnung zur anderen. Auf der Seite des Haupteinganges lehnte er sich über die Mauer, um hinabsehen zu können. Rouven ließ Jeremie nicht aus den Augen.
„Was meinst du, wie hoch der Turm ist?“ fragte ihn Jeremie, ohne sich dabei umzudrehen. Plötzlich geschah es. Jeremie hatte sich zu weit über die Brüstung gelehnt. Seine Brille rutschte ihm von der Nase. Geistesgegenwärtig griff er nach ihr, dabei verlor er den Halt. Rouven wollte Jeremie noch fassen. Doch zu spät. Jeremie stürzte vor seinen Augen über die Brüstung. Jeremie schrie. Er schrie, bis ein dumpfer Schlag den Schrei jäh zerriß. Jeremie war sofort tot. Rouven starrte auf die Brüstung. Nicht fähig, sich zu bewegen, starrte er unentwegt auf die Brüstung. Minuten verstrichen bis
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