Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
Verständnislos musterte er Rouven.
„Jeremie?“ fragte er leise.
Rouven nickte. „Er war da, plötzlich war er da. Jeremie hat mit mir gesprochen.“
„Es war – kein Traum?“
Langsam schüttelte Rouven seinen Kopf. Er löste sich von Richmon und blickte wieder auf das Gemälde. Nur noch die leere Hand streckte der Engel dem Knaben entgegen.
„Wer ist Pontakus?“ fragte Rouven unvermittelt.
„Pontakus?“ wiederholte Richmon. In seiner Stimme lag etwas Gezwungenes. Als würde es ihn große Überwindungskraft kosten, diesen Namen über seine Lippen zu pressen.
Langsam begab Richmon sich zu dem Altar, ergriff das Tuch und ließ es wieder an der Seite heruntergleiten. Augenblicklich legte sich der leichte Luftzug. Ein Buch, ein Foliant kam darunter zum Vorschein.
„Die Chronik des Klosters“, machte der Pater Rouven darauf aufmerksam. Rouven wandte sich um. Gelassen näherte er sich dem Opfertisch. Neben dem Foliant lag noch ein kleines Buch. Die Niederschrift, aus der Schwester Maria vorgelesen hatte.
Dicht vor dem Altar blieb Rouven stehen. Er warf einen kurzen Blick auf die aufgeschlagene Seite. Ein unmerkliches Flimmern durchzuckte seine Augen, als er Pater Richmon ansah.
„Pontakus“, sagte Rouven. Leise sprach er den Namen aus. „Pontakus war der Mönch, von dem du mir erzählt hattest.“
Richmon blickte verwundert auf. „Der Mönch“, erwiderte er, überrascht von Rouvens Scharfsinn. „Der Mönch, der das Buch geschrieben hat.“ Mit dem Finger strich er an der obersten Zeile entlang. „Gezeichnet von seinem Geist, gespaltet zwischen Sein und Nichtsein, irrte unser geliebter Bruder Pontakus umher.“ Der Pater las deutlich, die einzelnen Wörter dabei stark betonend. „Verzweifelt, dennoch innerlich stark fand er den Weg in unser bescheidenes Reich. Mit Freuden nahmen wir ihn in unserer Mitte auf. Machten ihn zu unserem Bruder. Erfreuten uns an seinem Dasein. Bis zu jenem Tage, an dem er, von der Menschheit dazu getrieben, sich selbst in den Tod stürzte. Niemals wurde es gefunden, sein Erbe, seine Hinterlassenschaft, geschrieben in Worten. Das einzige, für das er je gelebt hatte. Verbannt für die Ewigkeit?“ An dieser Stelle endete der Pater, schlug mehrere Seiten um und las in derselben Art weiter. Mit Spannung folgte Rouven der Niederschrift. „Niemand wußte, was unseren Bruder Bifezius in den Wahnsinn getrieben hatte. Niemand wußte, was unseren Bruder dazu veranlaßte, einen Engel, einen Knaben und eine Schlange über den Aufgang des Glockenturmes zu malen. Niemand wußte seine Worte zu deuten, die er immer und immer wieder in die Nacht hinausschrie. Niemand erkannte die Gefahr, in der wir uns ständig bewegten. Niemand, bis auf einen, doch dieser hatte sich vor langer Zeit in den Tod gestürzt. Pontakus. Seine Macht ist verbannt in vielen Seiten, die er niedergeschrieben hatte. Bifezius, seine Augen hatten diese Zeilen gelesen. Mit seinem Verstand mußte er diese Neugierde bezahlen.“ Wieder hielt der Pater inne. Sein Finger, mit dem er die Zeilen entlangstrich, begann zu zittern. „Pontakus wird wiederkommen. Pontakus wird Rache nehmen. Seine Macht reicht weit über die Schrift hinaus. Seine Macht – ist der Tod!“
Auf die Stirn des Paters hatten sich Schweißperlen gelegt. Wieder blätterte er mehrere Seiten weiter. Rouven stand unbeweglich, jedem seiner Worte lauschend.
„Unsere Vorfahren hatten ihn begraben, eingemauert in einem Verlies, nachdem er sich in den Tod gestürzt hatte. Ihren Freund, Pontakus. Ein Ehrengrab sollte es sein, in der Nähe seines Herrn. Viele viele Jahre ist es nun her. Beinah ein Jahrhundert. Heute, wir schreiben das Jahr 1435 nach Christi Geburt. Schreckliches ist den Gemäuern unseres Klosters widerfahren. Unheimliches liegt in der Luft. Etwas schleicht des Nachts umher. Es tötet auf bestialische Weise. Niemand kann ihm entrinnen. Es scheint, als suche er seine Opfer aus. Man sagt, Pontakus nimmt Rache an seinen Widersachern. Pontakus, einstiger Freund unserer Ahnen. Nun bringt er den Tod!“ Langsam schloß Richmon den Folianten, legte seine Hand darauf und blickte auf den Altar. Schweigsame Minuten verstrichen.
„Du hattest recht, Rouven“, unterbrach er die Stille. Er drehte seinen Kopf Rouven zu. Das sonst warmherzige Schimmern in seinen Augen war verblaßt. „Nun habe ich begriffen. Pontakus ist seines eigenen Werkes Sklave geworden. Solange sich das Buch nicht in deinen Händen befindet, Rouven, wird es Unheil und
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