Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
dir genau an.“
Argwöhnisch folgte Pater Richmon dem Internatsleiter. Er wollte Rouven fortschicken, weg von diesem Ort, doch Goodman zeigte keinerlei Gefühle. Nicht die geringste Regung war in seinen Gesichtszügen zu bemerken.
„Kommen Sie!“ rief Mr. Goodman grimmig. „Wir müssen Sallivan fortschaffen.“
Je mehr sie sich Sallivan näherten, desto stärker wurde der Geruch. Rohes Fleisch, wie es bei abgeschlachteten Tieren zu riechen war. Aber dies war kein Tier. Menschenfleisch, es war rohes Menschenfleisch, das Richmon den Atem raubte. Mr. Goodman schien dies nichts auszumachen. Von seinem Zusammenbruch, den er im Rektorat gehabt hatte, war nicht das mindeste noch zu bemerken.
Richmon mußte sich zusammenreißen, daß es ihm nicht das Essen heraufwürgte. Mehrmals war er schon nahe daran, sich zu übergeben. Gemeinsam schafften sie es, die Verriegelung hinter Sallivans Körper auf die Seite zu schieben. Langsam drückte Mr. Goodman das Tor nach außen. Sallivans Haut schleifte auf dem Boden entlang.
„Er kommt nur einmal in der Nacht“, sagte Mr. Goodman mit rauher Stimme. „Nur einmal kommt er und bringt ihn.“
Richmon war nicht in der Lage, etwas zu erwidern. Zu sehr war er mit sich beschäftigt. Damit, nicht die Kontrolle über sich zu verlieren.
Auf der anderen Seite des Tores war das Seil mittels eines Knotens an den geschmiedeten Eisengriffen befestigt. Es fiel ihnen nicht schwer, die Verschlingung des Seiles zu lösen. Dumpf schlug Sallivans Körper auf der Erde auf.
„Packen Sie mit an“, forderte Mr. Goodman den Pater auf. Er legte den Stock beiseite und ergriff das Seil. Richmon kam der Aufforderung nach. Mr. Goodman voraus schleiften sie Sallivan bis hin zu dem dichtbewachsenen Eisentor. Mit einem Tritt stieß Mr. Goodman es auf. Das Knarren konnte bis weit hin in die Nacht gehört werden. Plötzlich durchzuckte ein greller Blitz die Schwärze der Nacht. Kurz darauf ein gewaltiger Donner. Erste Regentropfen befeuchteten die Erde. Goodman ließ sich nicht von seinem Vorhaben abbringen. Unermüdlich zog er weiter an dem Seil. Sallivans Leiche wurde durch das Tor gezogen. Sie hinterließ eine breite Schleifspur in dem bronzefarbenen Kies. Ein zweiter, unmittelbar darauf ein dritter Blitz erhellte die Nacht. Wie gewaltige Arme, die sich jeden Augenblick auf sie niederschmettern wollten, ragten die Äste über ihnen hinweg. Aufkommender Wind bewegte sie langsam hin und her. Das erste Mal in seinem Leben empfand Pater Richmon Schuldgefühle. Er kam sich vor wie ein Mörder, der sein Opfer beiseite schaffen wollte. Es widerstrebte ihm, sich umzublicken. Dennoch warf er einen Blick auf Sallivan. In diesem Moment erhellte wieder ein Blitz die Nacht. Rötlich schimmerte das blutige Fleisch. Ohrenbetäubend dröhnte der Donner um sie herum. Mit einem Male prasselte der Regen nur so auf sie nieder. Binnen weniger Sekunden waren sie bis auf die Haut durchnäßt. Richmon stülpte sich die Kapuze über den Kopf. Die Kräfte drohten ihm zu schwinden. Verständnislos blickte er auf Goodman. Unerschöpflich schienen dessen Kräfte zu sein.
„Lassen Sie nicht nach!“ schrie ihn Mr. Goodman an. Richmon erschrak über den Blick, den Goodman ihm zuwarf. „Bald haben wir es geschafft!“
Wie Stunden kam es Pater Richmon vor. Doch waren es nur wenige Minuten, bis sie endlich das Ende der Allee erreicht hatten. Ein zweites, kleineres Eisentor versperrte ihnen linker Hand den Weg. Es hatte die Form eines halbrunden Bogens, der mit zahlreichen Zacken versehen ein Darübersteigen unmöglich machte. Das Eisen, von Witterungseinflüssen stark angerostet, mußte schon so alt sein wie das Gemäuer selbst, in das es eingefaßt war. Trotz der ständigen Donnerschläge und des herabbrausenden Regens konnte das Knarren deutlich gehört werden, als Mr. Goodman das Tor aufstieß.
Der Friedhof lag vor ihnen. Seit dem Aufbau des Klosters wurden an diesem Ort die Ordensbrüder bestattet. Über Jahrhunderte hinweg bis zu jener Zeit, als das Kloster zu einem Internat umfunktioniert worden war.
Auf der anderen Seite der heiligen Stätte, ungefähr zwanzig Schritte vom Eingang entfernt, befand sich eine niedrige Steinhütte. Der Platz, an dem die Leichen einbalsamiert und für die Beerdigung zurechtgemacht wurden. Auch Jeremies Körper befand sich derzeit in dieser Hütte.
Mr. Goodman blickte sich um. In fünf gleichmäßigen Reihen sind die Gräber angebracht. Die Grabsteine zum Teil schon verfallen, wucherte wildes
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