Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
Gewächs über den Ruhestätten. So auch das Gemäuer ringsherum. Dicht bewachsen war es kaum mehr zu erkennen. Niemand fühlte sich für diese Gräber verantwortlich. Es gab keine Verwandten oder Ahnen, die sich die Mühe machen würden, den letzten Ort ihrer Verstorbenen auch nur zu besuchen.
„Weiter!“ befahl Goodman. Verbissen zog er an dem Seil. Richmon wollte es hinter sich bringen. So schnell wie möglich. Noch nicht ganz hatten sie die zwanzig Schritte bis zu der Steinhütte hinter sich gebracht, da drang ein lauter Knall an seine Ohren. Erschrocken drehte Richmon sich um. Mr. Goodman hatte den Schlag anscheinend nicht gehört. Das Eisentor, es war zu. Richmon zweifelte daran, daß der Wind es zugeschlagen hatte. An der Hütte angelangt, ließen sie das Seil zu Boden fallen. Ihm war, als würden sie beobachtet. Irgend etwas hielt sich in ihrer Nähe verborgen.
Mr. Goodman öffnete die Tür zu dem Leichenraum. Richmon hielt sich dicht hinter ihm. Unheimlich kam ihm der Internatsleiter auf einmal vor. Als würde er etwas tun, das er schon hundert Mal davor getan hatte. Mr. Goodman wandte sich um.
„Hier wird ihn niemand finden“, flüsterte er. „Niemand wird Mr. Sallivan vermissen.“ Mit zusammengekniffenen Augen blickte er Richmon an. Der Pater hatte den Eindruck, als stände er einem eiskalten Killer gegenüber. Nicht das geringste Mitgefühl konnte er in Goodmans Gesicht herauslesen.
„Morgen ist Jeremies Beerdigung“, erwiderte Richmon nur. Dabei warf er einen Blick auf die Steinplatte, worauf sie Jeremies leblosen Körper gelegt hatten. Er war zugedeckt mit einem weißen Leinentuch.
„Außer wir beide wird diesen Raum morgen niemand betreten“, hielt Mr. Goodman dagegen. „Sie und ich, wir werden den Jungen zu Grabe tragen.“ Er trat vollends in die Steinhütte ein. Erste Verwesungsgerüche machten sich schon bemerkbar. Auf beiden Seiten des Raumes standen mehrere brennende Kerzen, die einigermaßen Licht verbreiteten. Das unaufhörliche Geräusch des Regens wurde von dem Getöse des Donners noch verstärkt.
„Bringen Sie ihn“, forderte Mr. Goodman den Pater auf. „Legen wir ihn neben den Jungen auf den Boden.“
Richmon wollte sich sträuben, den Toten allein in die Hütte zu schleifen. Mr. Goodman kehrte ihm einfach den Rücken zu. Es wäre wahrscheinlich zwecklos gewesen, etwas dagegen zu sagen. Verbissen trat er vor die Hütte, ergriff das Seil und zerrte Sallivan rückwärts durch die Öffnung. Mr. Goodman hatte sich über das Laken gebeugt, unter dem Jeremie verborgen lag. Eben war er im Begriff, es ein wenig anzuheben.
„Was tun Sie da?“ entfuhr es Richmon, als er sich nach Goodman umblickte. Entrüstet darüber trat er neben ihn. Entsetzt fuhr er zurück.
„Mein Gott“, hauchte er sich abwendend. Goodman starrte auf den Leichnam.
Jeremie war nicht mehr zu erkennen. Sein gesamtes Gesicht war übersät von vielen kleinen Bissen und Löchern. Teilweise waren die Backenknochen freigelegt. Vermutlich war auch der Rest des toten Körpers so zugerichtet.
„Ratten“, zischte Goodman. Er ließ das Laken wieder fallen und blickte auf Sallivan. Durch das Schleifen auf der Erde hatte es ihm teilweise die gehäutete Haut abgetrennt.
„Ich hatte Sie gewarnt“, flüsterte er kaum hörbar. Langsam wanderte sein Blick über den zerschundenen Körper. Nur noch eine dicke Fettschicht hielt die Eingeweide zusammen. Pater Richmon stand auf der anderen Seite, nahe der Tür. Ihm war es unbegreiflich, wie Mr. Goodman sich den Toten so genau ansehen konnte.
„Gehen wir“, drängte er den Internatsleiter. Mr. Goodman blickte auf. Langsam bewegte sich sein Kopf hin und her.
„Gehen Sie allein“, wehrte er unerwartet ab. „Fragen Sie nicht, gehen Sie einfach.“
Pater Richmon schüttelte unbegreiflich seinen Kopf. „Was wollen Sie hier noch?“ fragte er dennoch. „Sie können nichts mehr tun.“
„Gehen Sie!“ wiederholte Mr. Goodman. Sein Ton klang scharf, befehlerisch.
Richmon wandte sich um. „Wie Sie meinen“, sagte er beim Hinausgehen. Besonders wohl fühlte er sich nicht dabei, wenn er daran dachte, daß irgendwo da draußen ein mörderisches Wesen auf ihn lauerte.
„Er kommt nur einmal in der Nacht“, wiederholte Richmon die Aussage Goodmans. „Nur einmal und bringt ihn – den Tod!“ setzte er hinzu. Zwischenzeitlich hatte sich das Gewitter in nördlicher Richtung verzogen. Nur noch vereinzelte Blitze und entfernte Donnergeräusche erinnerten daran. Der
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