Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
Gefühl, das er bisher noch nie verspürt hatte. Kurz entschlossen entschied er sich für das erstere. Langsam setzte er einen Fuß durch die Öffnung.
„Geh nicht hindurch“, vernahm er plötzlich hinter sich jemanden flüstern. Sofort erkannte er die Stimme des Paters. Dennoch erschrocken wandte Rouven sich zaghaft um.
„Du begibst dich in Gefahr, Rouven. In eine sehr große Gefahr.“ Eindringlich sah ihn Pater Richmon dabei an. Er trat an das Tor und zog es langsam zu. Rouven machte mehrere Schritte zurück.
„Ich habe auf dich gewartet, Rouven“, erklärte Richmon seine unerwartete Anwesenheit. Rouven blickte den Pater mit großen Augen an. Er wollte etwas erwidern, Richmon winkte mit der Hand ab.
„Sag nichts“, forderte er ihn auf. „Folge mir nur.“ Ohne Zögern drehte Richmon sich um und ging direkt auf die Kirche zu. Rouven folgte ihm. Argwöhnisch sah er um sich. Es war ihm ein Rätsel, wie der Pater, ohne jegliches Geräusch zu verursachen, an ihn herantreten konnte.
Durch den Hintereingang betraten sie die Kathedrale. Richmon führte Rouven in den Bereich des Altares. Nur wenige Kerzen erleuchteten das Podest, auf dem sich der steinerne Gebetstisch befand. Ein leichter Luftzug wehte durch die Kirche. Die Ursache hierfür war das Tuch, das auf der Vorderseite aufgeschlagen war. Auch lag der Teppich, der das quadratische Loch verbarg, zusammengerollt dahinter.
Mit Blick auf das Gemälde stellte sich Pater Richmon vor die Tür. Noch mehr verfinsterten sich seine Gesichtszüge, als er es zu betrachten begann. Rouven blickte ebenfalls auf das Bild. Fassungslos und betroffen zugleich starrte er von dem Gemälde auf den Pater.
„Das Buch“, sagte er bestürzt. „Es ist weg.“
„Mir ist es aufgefallen, nachdem du gegangen bist“, erwiderte der Pater. „Nicht nur die Schrift ist verschwunden, sondern das ganze Buch.“ Langsam kniete er sich zu Rouven nieder. „Das ist kein gutes Omen“, hauchte er. Sanft legte er seine Hände auf Rouvens Schulter. „Wir müssen alles tun, um es wieder zu bekommen, Rouven. Das Buch, es beginnt von ihnen Besitz zu ergreifen.“
„Heute mittag“, entgegnete Rouven. „Ich habe gesehen, wie Ellinoy und Champy das Internat verlassen hatten. Ich wollte ihnen folgen, aber Mr. Sallivan kam gerade auf das Tor zu. Dann bin ich wieder zurückgegangen.“
„Mr. – Sallivan“, sprach Pater Richmon leise. „Vermutlich ist er tot.“
„Tot?“ Rouven schreckte merklich zusammen. Ungläubig sah er den Pater an.
„Ich hatte eine kurze Unterredung mit Mr. Goodman“, begann er zu erzählen. „Dabei habe ich immer wieder zum Fenster hinaus gesehen. Ich sah, wie Ellinoy und Dumpkin auf das Tor zuschlichen. Etwas später kam Mr. Sallivan dazu. Woher, weiß ich nicht. Aus irgendeinem Grund trat er direkt auf das Tor zu. Lehnte sich dann dagegen. Danach öffnete er das Tor. Auf einmal, ich habe noch nie so etwas gesehen, wurde er von etwas hochgeschleudert und durch die Öffnung des Tores gezogen. In diesem Moment trat Mr. Goodman neben mich. Er hat dasselbe wie ich gesehen. Mr. Goodman wankte auf einmal. Er sagte, Pontakus, Pontakus ist zurück. Ich sprach ihn darauf an, doch Mr. Goodman reagierte nicht. Sein Gesicht war kreidebleich. Ich mußte ihm auf seinen Stuhl helfen. Er verlangte von mir, mit niemandem darüber zu reden. Ich mußte es ihm sogar versprechen.“ Pater Richmon blickte Rouven noch eindringlicher an. „Dir, Rouven, mußte ich es sagen. Es hat mit dem Buch zu tun. Das Buch, Rouven, es mordet!“
Rouven sah den Pater mit aufgerissenen Augen an. Das eben Gehörte war für ihn unfaßbar. Genauso das Vertrauen, das ihm Richmon entgegenbrachte.
„Jeremie“, flüsterte er. Pater Richmon horchte auf. Es hatte ihm am Morgen viel Mühe gekostet, Rouven von dem Gedanken abzubringen, daß das Buch an Jeremies Tod schuldig sei. Richmon hatte sich beherrschen müssen, als er auf dem Turm erfahren hatte, daß Dumpkin mit seinen Freunden im Besitz des Buches ist. Nach dem, was er eben erzählt hatte, würde es ihm nicht mehr gelingen, Rouven von der Unschuld des Buches zu überzeugen. Selbst zweifelte er nun auch daran.
„Jeremie war bei mir“, sprach Rouven weiter. „Gestern nacht war er bei mir. Von ihm weiß ich, daß sie das Buch besitzen. Er hat mich gewarnt. Sie wollen mich –“, das letzte Wort brachte Rouven nicht mehr über die Lippen. Hörbar atmete er mehrmals tief durch. Richmon wußte nicht, was er davon zu halten hatte.
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