Das Buch der Schatten: Roman (German Edition)
Vorschein. Sehr langsam schob sie sich zwischen dem Tuch hindurch. Rouven stockte der Atem. Er wollte schreien, schreien um den Pater zu warnen, doch keinen Ton brachte er hervor. Richmon dachte, der entsetzte Gesichtsausdruck galt ihm. Plötzlich tat es ihm leid, Rouven auf solch schamlose Weise angelogen zu haben. Auf einmal verspürte er, wie sich etwas an seinem Hosenbein zu schaffen machte. Bestürzt wollte er auf die Seite weichen. Zu spät! Blitzschnell klammerte sich die knochige Hand um sein Bein. Die messerscharfen Fingernägel bohrten sich in seine Wade. Richmon starrte entsetzt auf den blutroten Arm, der ihn unter den Altar ziehen wollte. Hilfesuchend blickte er auf Rouven. Unaufhaltsam zerrte dieses abscheuliche Geschöpf an seinem Bein. Gegen diese Kraft hatte Richmon keine Chance. Seine einzige Rettung war Rouven.
„Rouven, hilf mir“, schrie Richmon außer sich. Verzweifelt suchte er einen Gegenstand, mit dem er auf die Hand einschlagen könnte. Doch nichts befand sich in greifbarer Nähe. Gleichmäßig zog es ihn mehr und mehr, bis er den Halt verlor. Unsanft stürzte Richmon zu Boden. Rouven starrte nur auf den Pater. Er war nicht fähig, ihm zu Hilfe zu kommen. Krampfhaft klammerte Richmon sich an der äußeren Kante des Altares fest. Seine Kraft war zu schwach. Zu schwach, dieser Gewalt zu widerstehen.
„Mein Gott Rouven, so hilf mir doch! Hilf mir!“
Stück für Stück wurde Richmon in den dunklen Gang gezogen. Mit letzter Kraft versuchte er sich noch zu befreien, sich am Steinboden hochzustemmen. Vergeblich.
„Rouven, das Buch“, schrie Richmon, als er dessen Blickfeld entschwand. „Es befindet sich im Schemel. In meinem Zimmer. Rouven es tut – lei-d“, abrupt verstummten Richmons Schreie.
Totenstille. Rouven starrte auf das Loch, in das Richmon samt dem schwarzen Tuch gezerrt wurde. Goodman hatte es mit angesehen. Jede Einzelheit hatte er genaustens beobachtet. Auch wußte er nun, wo das Buch zu finden ist. Ihm schauderte bei dem Gedanken, was dem Pater nun bevorstand. Deutlich sah er Sallivan vor sich. Enthäutet, wahrscheinlich bei lebendigem Leibe.
Plötzlich wurde die schwere Eichentür geöffnet. Jemand verließ die Kirche. Noch jemand, der diese schreckliche Szene mitbeobachtet hatte. Goodman fuhr es durch die Glieder. Noch jemand, der nun wußte, wo das Buch zu finden ist! Schlagartig wandte er sich um, hastete zu Tür, öffnete sie und eilte auf den Hof. Weit und breit konnte er niemanden erblicken. Demnach mußte sich derjenige entweder versteckt haben, oder er hatte die Richtung des Schülerhauses eingeschlagen. Goodman überlegte nicht lange. Auf direktem Weg hetzte er auf das Lehrerhaus zu. Die Hälfte der Strecke hatte er hinter sich, erst da bemerkte er, wie sich doch noch jemand dem Gebäude genähert hatte. Gerade verschwand die Gestalt hinter der Tür. Goodman konnte nicht mehr schneller. Seine Kräfte drohten ihm schon zu versagen. Kopfüber stürzte er auf die Eingangstür zu, riß sie auf und jagte hinterher. Durch das Geräusch wurden einige aus dem Schlaf gerissen. Lichter gingen an, eine Zimmertür wurde geöffnet. Mr. Larsen betrat den Flur. Verwundert blickte er auf den Internatsleiter, der eben an ihm vorbeirannte. Goodman schien ihn nicht zu registrieren. Larsen schüttelte unverständlich den Kopf. Ohne sich noch weiteres darum zu kümmern, trat er wieder zurück in sein Zimmer.
Von weitem hörte Goodman schon die Geräusche, wie sich jemand an Richmons Tür zu schaffen machte. Nur noch wenige Stufen hatte er vor sich. Mit einem Male verstummten sie, die Geräusche. Das Licht wurde ausgeschaltet. Goodman stockte, blieb stehen, versuchte den Atem anzuhalten. Nichts! Nicht den geringsten Laut konnte er vernehmen. Er wußte genau, irgend jemand befand sich in seiner Nähe, wollte dasselbe, was auch er an sich zu bringen trachtete. Irgend jemand, und dieser war in diesen Augenblicken sein Feind. Leise stieß er den Atem aus. Seine Lunge bebte nach dieser Anstrengung. Auf alles gefaßt setzte er seinen Fuß auf die letzte Stufe. Langsam drückte er sein Knie durch. Das Holz unter ihm knarrte. Innerlich verfluchte er dieses Geräusch. Angestrengt spähte er um sich. Richmons Zimmer war das einzige, das sich auf dieser Etage befand. Und dieses war nur wenige Meter von ihm entfernt. Aber es war viel zu dunkel, um etwas ausfindig machen zu können. Doch kannte er die Örtlichkeit so gut, daß es nur zwei Möglichkeiten gab, sich zu verstecken. Wobei sich die
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