Das Buch der Sünden
Auf dem Boden in der Küche kauerte Gullweig mit leichenblassem Gesicht. Sie hatte noch die Schüssel in der Hand, mit der sie Farnwurzeln sammeln wollte. Sie zeigte auf die Tür.
«Sie haben dein Mädchen mitgenommen.»
Helgi hechtete nach draußen.
Er sah, wie die beiden Krieger die Sklavin durch den schmalen Gang zwischen Weidenzaun und Hauswand zur Gasse zerrten. Rúna schrie wie von Sinnen.
Mit zwei Sätzen war Helgi bei den Kriegern. Er schlug mit dem Hammer nach ihnen. Doch die Krieger duckten sich unter dem Hieb weg. Der Hammer knallte in die Hauswand. Lehm und das darunterliegende Flechtwerk brachen ein. Der Hammer blieb in dem Loch stecken. Helgi ließ ihn los und rannte weiter.
Die Männer hatten die Gasse erreicht. Als Helgi ums Haus stürmte, sah er sich Olaf und einer Handvoll weiterer Krieger gegenüber. Kräftige Männer, denen die Lust am Töten in die Gesichter geschrieben stand. Sie richteten Lanzen und Äxte auf Helgi. Die beiden jungen Krieger versuchten unterdessen, die sich aus Leibeskräften wehrende Rúna zu fesseln.
Olafs Schwertklinge glänzte im Sonnenlicht. Langsam bewegten sich die Männer auf Helgi zu. Rúna schrie. Einer der Krieger verpasste ihr einen Fausthieb ins Gesicht.
Olaf richtete das Schwert auf Helgi.
«Du hast mich bedroht, Einars Sohn.» Olafs rote Augen quollen aus seinem Gesicht hervor. «Das tut niemand ungestraft.» Er hob seine Waffe.
Da ertönte eine Stimme aus dem Hintergrund. «He, Olaf – du versoffene Missgeburt!»
Olaf erstarrte. Seine roten Bartzöpfe schlackerten. Er wirbelte herum; die Stimme gehörte Björn. Der Fischer und ein gutes Dutzend anderer Nachbarn hatten sich in der Gasse versammelt.
Bera, die Frau des Glasperlenmachers, trat vor. «Lass den Jungen in Ruhe.»
Die Nachbarn waren unbewaffnet. Es waren Handwerker und Hausfrauen, keine Krieger.
Olaf und seinen Männern wäre es ein Leichtes gewesen, die Leute zu töten. Aber Olaf wollte kein Aufsehen erregen. Immer mehr Anwohner gesellten sich dazu.
«Warum entführst du das Mädchen, Olaf?», rief Bera.
Da erschien plötzlich Gizur in der Gasse. «Die Sklavin gehört mir. Ich habe viel Geld dafür bezahlt. Sie ist mein Eigentum. Der Junge hat sie mir gestohlen.»
Helgi ballte die Hände zu Fäusten. Der Kryppa hatte das alles eingefädelt. Wie hatte Helgi nur so blauäugig sein können?
«Der Schmied hat recht», sagte Olaf. Um die Situation nicht eskalieren zu lassen, steckte er das Schwert hinter seinen Gürtel. Auch die Krieger ließen ihre Waffen sinken.
«Macht den Weg frei, Leute. Geht wieder an eure Arbeit», rief Olaf.
Doch niemand rührte sich. Bera sagte: «Es heißt, Gizur habe Einar ermordet.»
Ein Raunen ging durch die Menge. Einige Leute hörten diesen schweren Vorwurf zum ersten Mal. Sie tuschelten und deuteten auf Gizur, der mit versteinerter Miene die Sklavin beobachtete. Die Krieger hatten ihr inzwischen die Hände auf dem Rücken zusammengebunden.
Aus den Reihen der Nachbarn flog plötzlich ein Stein. Gizur heulte getroffen auf.
Olaf hob beschwichtigend die Hände. «Hört damit auf. Es ist allein die Angelegenheit unseres Jarls, über Schuld und Unschuld in Haithabu zu befinden.»
«Hovi muss für Gerechtigkeit sorgen», rief Björn.
«Das wird er, das wird er», versuchte Olaf die Menge zu beschwichtigen. «Bis Hovi ein Urteil gesprochen hat, bekommt weder Gizur noch Einars Sohn die Sklavin. Der Jarl wird sich bis auf weiteres um sie kümmern.»
Olaf zeigte auf Gizur und sagte deutlich in Helgis Richtung: «Und niemand wird sich an dem Kryppa vergreifen. Wer ihm ein Haar krümmt, wird mit dem Tode bestraft.»
Auf Olafs Zeichen hin nahmen die Krieger den Karren mit den Werkstücken und das Mädchen in ihre Mitte. Dann setzte sich die Gruppe in Bewegung.
Dieses Mal traten die Nachbarn zur Seite. Bald darauf waren die Krieger am Ende der Gasse verschwunden. Die Leute kehrten in ihre Häuser zurück.
Helgi warf Gizur einen hasserfüllten Blick zu. Der Kryppa stand mit verschränkten Armen hinter seinem Weidenzaun. Er grinste.
36.
Das Regenfest sollte zum Anfang des Heumonats stattfinden, den die Nordländer
heyannir
nannten. An diesem Nachmittag holte Odo das Buch aus dem Versteck hervor. Er schlug es an der Stelle auf, an der das Lesezeichen den fünften Abschnitt markierte.
Ira, der Zorn.
Er kannte den Text auswendig. Hatte er ihn doch in den vergangenen Tagen wieder und wieder studiert, hatte jedes einzelne der Wörter inhaliert. Sie waren so
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