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Das Buch der Sünden

Das Buch der Sünden

Titel: Das Buch der Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Axel S. Meyer
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tief in ihm verwurzelt, dass sie ein Teil seines Ichs geworden waren.
    «…   bis die Zeiten der Heiden erfüllt sind   …»
    Ja, so sagte sich Odo im Stillen, die Zeiten der Pagani werden bald erfüllt sein.
    Er dachte an die in den Ländern des Nordens grassierende Hungersnot. Sie war von einer langen Dürreperiode ausgelöst worden und kündigte, wie Odo glaubte, die Apokalypse an. Diese Not war ein Zeichen des Allmächtigen, ein Zeichen, das an ihn, an Odo, gerichtet war.
    Das himmlische Gericht stand unmittelbar bevor.
    Ermutigt durch diese Gedanken, widmete sich Odo der Illustration neben dem Text. Das Bild zeigte die Verwerfungen des Zorns in den abscheulichsten Darstellungen. Da waren mit Schwertern und Lederpeitschen bewaffnete Männer zu sehen, die Männer, Frauen und Kinder folterten, töteten und verstümmelten. Da rannte ein Heer, bestehend aus menschlichen Knochenskeletten, auf einen Abgrund zu. Da kreisten verderbenbringende Totenvögel einer schwarzen Wolke gleich durch die Lüfte. Da ritt derTod auf einem fahlgelben Pferd mit seinem Gefolge, den Wesen aus dem Totenreich, daher.
    Denn jenen war die Macht gegeben, ein Viertel der Menschheit zu töten durch Krieg, Hungersnot, Seuchen und wilde Tiere. Dieser Tod – das war der Dämon Ira.
    Und Odo würde ihn in dieser Nacht vernichten.
    Auf welche Art und Weise? Auch das zeigte ihm die Illustration. Am Rande der Zeichnung befand sich das Abbild der Steinkirche, über deren Dach das «I» dem Himmelreich entgegenschwebte, nachdem der Dämon gerichtet worden war. Der Sünder auf der Illustration war ein kräftiger, baumlanger Mann, so wie Draupnir. Zur Vernichtung des Dämons hatte man ihm Arme, Beine und Kopf abgehackt. Der gliederlose Torso war ausgeweidet worden.
    Odo schloss die Augen. Er atmete gleichmäßig ein und wieder aus. Dann wiederholte er leise die Worte, die er den Brüdern nach dem Mittagsgebet zum Gedenken mit auf den Weg gegeben hatte.
    «Und dann werden sie den Sohn des Menschen kommen sehen in einer Wolke mit großer Kraft und Herrlichkeit. Wenn ihr seht, dass dies geschieht, so erkennt, dass das Reich Gottes nahe ist. Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.»
    Von frischer Kraft erfüllt, packte Odo alles, was er in dieser Nacht benötigen würde, in die Holzkiste: das beidseitig geschliffene Messer, die eisernen Zangen und Spieße, Nadeln, kleine Reißmesser, den schwarzen Umhang und natürlich das Buch, die Quelle seiner Macht.
    Odo versteckte die Kiste wieder und legte sich auf das Strohlager. Er faltete die Hände zum Gebet und erwartete die Nacht.

37.
    Seit Tagen dämmerte er vor sich hin.
    Er hatte das Bett nur verlassen, um in den Garten zu schleichen und seine Notdurft zu verrichten. Gullweigs Mahlzeiten hatte er verweigert. Geduldig hatte sie auf ihn eingeredet, hatte versucht, ihn aus seiner Trägheit zu reißen. Doch ihre Worte waren an ihm abgeperlt wie Wassertropfen von einer Schwertklinge.
    Heute jedoch hatte sie eine Neuigkeit zu verkünden, die er nicht überhören konnte.
    Sie saß neben seinem Lager und sagte: «Hovi hat einen neuen Wettbewerb ausgerufen. Alle Schmiede aus Haithabu und der Umgebung sollen daran teilnehmen.»
    Helgi bedachte seine Mutter mit einem langen Blick.
    Gullweig wurde wütend. «Hörst du nicht, was ich sage? Nun kannst du den Auftrag doch noch bekommen.»
    Helgi verzog das Gesicht. «Aber jeder weiß doch, dass Gizur der beste Schmied nach Einar war. Er wird den Wettbewerb gewinnen.»
    «Nein.
Du
wirst ihn gewinnen. Einar hat dich alles gelehrt, was ein Schmied können muss.»
    «Was redest du da, Mutter? Du weißt ebenso gut wie ich, dass ich niemals ein so hervorragender Schmied wie Einar sein werde.»
    Die Zornesröte stieg in Gullweigs Gesicht auf. «Du Gapuxi! Du dummer Gapuxi!»
    Helgi schob beleidigt die Unterlippe vor. «Ich bin kein dummer Narr.»
    «O doch! Du vergehst vor Selbstmitleid, anstatt alles dafür zu tun, das Mädchen zu befreien.»
    «Aber was soll ich denn tun? Soll ich in Hovis Haus eindringen? Ich allein gegen hundert Krieger? Soll ich den Blóðsimlir mit rostigen Nägeln bewerfen?»
    Gullweig konnte das Gejammer nicht mehr hören. Ihre Geduld war am Ende. «Du bist stärker als diese Berserker! Es wird Zeit, dass du kämpfen lernst. Einar würde sich schämen für dich. Wenn du Augen hättest, um zu sehen, und Ohren, um zu hören, dann wüsstest du, was zu tun ist.»
    Sie sah ihm fest in die Augen und sagte: «Dann würde ich

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