Das Buch der Toten
Aussichtspunkt hinter einem der Torpfosten des Restaurants und wartete, während er die Anzeichen der Trostlosigkeit aus nächster Nähe bewunderte, abblätternde schwarze Farbe, splitternde Bambusrohre. Noch so ein geplatzter Traum. Das gefiel ihm.
Hinsetzen konnte er sich nicht, und so stand er da in seinem Versteck und sah lange Zeit zu, wie sich vor dem Sangre de Leon absolut gar nichts tat. Sein Rücken und seine Knie begannen zu schmerzen, und indem er sich streckte und in die Hocke ging, schien er alles nur noch schlimmer zu machen. Letztes Jahr hatte Rick zu Weihnachten einen Heimtrainer für das Gästeschlafzimmer gekauft und benutzte ihn seither mit religiösem Eifer jeden Morgen um fünf Uhr. Und letzten Monat hatte er angeregt, dass Milo es doch auch einmal mit regelmäßigen Übungen versuchen könnte. Milo hatte ihm nicht widersprochen, aber befolgt hatte er den Rat auch nicht. Morgens war mit ihm nicht viel anzufangen, und wenn Rick aufstand und ins Krankenhaus fuhr, stellte er sich meistens schlafend.
Er warf einen Blick auf seine Uhr. Die Cossacks und Brad »der Arsch« Larner waren nun schon über eine Stunde drin, und weitere Gäste waren nicht eingetroffen. Larner war zweifellos der Sohn des ehemaligen Direktors von Achievement House. Der Sohn des Belästigers. Noch eine weitere Verbindung zwischen den Familien. Daddy hatte Caroline, die verrückte Schwester, in Achievement House untergebracht, im Tausch gegen Jobs für sich selbst und Junior.
Beziehungen und Geld. Das war ja nichts Neues. Präsidenten wurden auf dieselbe krumme Tour gewählt. Ob irgendetwas davon ihm im Fall Janie Ingalls weiterhelfen würde? Er konnte es jedenfalls nicht erkennen. Aber er wusste, sein Bauch wusste, dass all diese Dinge ihre Bedeutung hatten. Dass Pierce Schwinns Zwangspensionierung und seine eigene Versetzung nach West L. A. nicht nur das Ergebnis von Schwinns Aktivitäten mit Nutten war. Eine zwanzig Jahre alte Mauschelei, bei der John G. Broussard die Drecksarbeit gemacht hatte. Schwinn hatte sein Wissen, was immer es war, zwei Jahrzehnte lang für sich behalten, hatte Fotos in ein Album geklebt und sich endlich entschlossen, sein Schweigen zu brechen. Warum ausgerechnet jetzt?
Vielleicht, weil Broussard ganz oben angekommen war und weil das für Schwinn das Sahnehäubchen auf seiner Rache war. Er benutzt Milo für die Drecksarbeit…
Dann fällt er von einem lammfrommen Pferd… Scheinwerferlicht vom nördlichen Ende des Boulevards riss ihn aus seinen Grübeleien. Zwei Lichterpaare, zwei Fahrzeuge näherten sich der Melrose-Kreuzung. Die Ampel scha ltete auf Gelb. Das erste Auto überquerte noch vorschriftsmäßig die Kreuzung, das zweite fuhr bei Rot durch. Beide parkten vor dem Sangre de Leon.
Wagen Nummer eins war ein dezentes schwarzes Mercedes Coupe, wie überraschend, dessen Nummer er rasch notierte. Der Fahrer stieg aus. Wieder so ein Anzugstyp; er ging so schnell, dass die pinkfarbenen Ladys keine Chance hatten, seine Tür zu erreichen. Er drückte trotzdem der Erstbesten einen Schein in die Hand und gab Milo dadurch die Chance, ihn in aller Ruhe zu bewundern.
Ein älterer Mann. Zwischen Ende sechzig und Mitte siebzig, fast kahl, mit ein paar spärlichen grauen Härchen, die er quer über die Platte gekämmt trug. Angetan mit einem kompakt geschnittenen, hellbraunen Anzug, weißem Hemd und schwarzer Krawatte. Mittelgroß, mittlere Statur, glatt rasiert, mit faltigen Hautlappen am Kinn und am Hals. Ausdrucksloses Gesicht. Milo fragte sich, ob das wohl Larner senior war. Oder bloß ein Kerl, der essen gehen wollte. Falls ja, dann würde er jedenfalls nicht allein essen müssen, denn die übrigen Insassen rannten einander fast über den Haufen bei dem Versuch, ihm möglichst schnell zur Seite zu eilen.
Wagen Nummer zwei war ebenfalls schwarz, aber keine deutsche Wertarbeit. Es war ein großer, fetter Crown Victoria, eine Limousine von anachronistisch wirkenden Dimensionen. Solche Wagen hatte Milo in letzter Zeit nur noch als Staatskarossen gesehen, aber Regierungsfahrzeuge hatten Kennzeichen, die mit E anfingen, dieses hier nicht.
Aber auch viele zivile Einsatzfahrzeuge hatten keine solchen Nummernschilder und für eine Sekunde dachte er: Ein hohes Tier vom Department? Allzu leicht schienen seine kühnsten Erwartungen sich erfüllt zu haben, und plötzlich schoss es ihm durch den Kopf: Verflucht, da stecken die Oberbullen mit den Cossacks unter einer Decke, und ich Idiot hab meine beschissene
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