Das Buch der Toten
Geste.
»Ich bin ein solcher Langweiler, Sie fragen sich wahrscheinlich schon, ob ich allmählich senil werde.«
»Ganz bestimmt nicht, Bert.« Dabei war mir tatsächlich der Gedanke durch den Kopf geschossen: Er wirkt irgendwie zerstreut.
»Die Wahrheit ist, dass mein Kurzzeitgedächtnis nachgelassen hat. Aber es ist alles noch im normalen Bereich für meine Altersgruppe.«
»Ich finde, Ihr Gedächtnis funktioniert einwandfrei«, sagte ich.
»Nett, dass Sie das sagen…« Seine Geste schloss das ganze Zimmer ein. »All das, all diese Spielsachen können einen wunderbar ablenken, Alex. Jeder Junge braucht ein Hobby.« Seine dicken Finger fassten mich am Unterarm. Sein Griff war überraschend fest. »Das wissen wir doch beide, nicht wahr?«
Ich blieb noch zum Tee und sagte ihm dann, dass ich nach L. A. zurück müsse.
Während er mich zu meinem Wagen begleitete, sagte er:
»Dieses Mädchen… Das ist einfach ungeheuerlich, wenn es denn wahr ist.«
»Sie sind wohl skeptisch.«
Er nickte. »Ich finde es allerdings schwer zu begreifen, dass ein junges Mädchen zu solch einer brutalen Tat fáhig sein sollte.«
»Ich sage ja nicht, dass sie allein gehandelt hat, Bert, oder dass sie den Mörder auch nur angestiftet hat. Aber sie könnte die Opfer angelockt haben und sich dann entweder im Hintergrund gehalten oder sic h an der Tat beteiligt haben.«
»Irgendwelche Theorien über den Haupttäter?«
»Das Mädchen hatte einen sechs Jahre älteren Freund mit einer kriminellen Vergangenheit, unter anderem Mord.«
»Sexualmord?«
»Nein, es war ein Mord aus dem Hinterhalt.«
»Ich verstehe«, sagte er. »Gibt es irgendeinen Grund, weshalb Sie ihn anfangs nicht erwähnt haben?«
»Dass der Fall vertuscht wurde, hatte vermutlich mehr mit dem Mädchen zu tun.«
»Dieser Bursche war also nicht reich.«
»Nein, ein junger schwarzer Drogendealer.«
»Aha und was ist aus diesem jungen Schwerverbrecher geworden?«
»Er ist ebenfalls verschwunden.«
»Ein Mädchen und ein junger Mann«, sagte er. »Das würde in psychosozialer Hinsicht einiges ändern.«
»Ein Mörderpärchen«, sagte ich. »Ein mögliches Szenario ist, dass die beiden die Opfer bei der Party aufgegabelt und irgendwohin mitgenommen haben, wo sie dann vergewaltigt und ermordet wurden.«
»Eine Svengali-Trilby-Situation«, sagte er. »Dominanter Mann, unterwürfige Frau… denn das ist normalerweise die Voraussetzung dafür, dass eine leicht zu beeindruckende junge Frau sich zu extrem gewalttätigen Handlungen hinreißen lässt. Fast alle sexuelle Gewalt scheint vom Y-Chromosom auszugehen, nicht wahr? Was wissen Sie sonst noch über diesen Freund?«
»Er war nicht nur ein Junkie und ein Dealer, sondern auch gerissen genug, um einen mit allen Wassern gewaschenen Kautionsagenten dazu zu bringen, auf seine Sicherheit zu verzichten. Und berechnend genug, um den Agenten dann in einen Hinterhalt zu locken, das ist der Mord, für den er gesucht wird. Immer noch. Auch einer von Milos ungelösten Fällen.«
»Ein unglückliches Zusammentreffen für Milo«, meinte er.
»Ein Junkie im engeren Sinne, also Heroin?«
»Heroin war seine bevorzugte Droge, aber er war nicht wählerisch.«
»Hmm… das erklärt es wohl, denke ich.«
»Was?«, fragte ich.
»Bei sadistischen Sexualtätern denkt man normalerweise zuerst an Drogen wie Alkohol oder Marihuana, richtig? Ein Stoff, der gerade stark genug wirkt, um die Hemmungen zu überwinden, aber nicht so stark, dass er die Libido beeinträchtigt. Andere Drogen, wie Amphetamine oder Kokain, können zu Gewalttätigkeit führen, aber das ist dann normalerweise eine paranoide Reaktion. Aber Heroin?« Er schüttelte den Kopf. »Opiate tun vor allem eines, sie besänftigen. Wenn man die Notwendigkeit aus der Welt schaffen könnte zu stehlen, um an Heroin zu gelangen, dann wäre kein Ort sicherer als eine Stadt voller Süchtiger. Ich habe jedenfalls noch nie von einem Junkie gehört, der eine derartige sexuelle Gewalt an den Tag gelegt hätte.«
»Nicht, solange er high ist«, sagte ich. »Aber einem Heroinsüchtigen, der dringend einen Schuss braucht, würde man ungern zu nahe kommen wollen.«
»Wohl wahr.« Er kratzte sich am Ohr. »Aber dennoch, Alex, wäre die Gewalt in diesem Fall nicht eher impulsiver Natur, entsprungen aus seiner Frustration? Ein Süchtiger wäre doch nur an der Nadel interessiert und nicht daran, junge Mädchen anzulocken, sie zu vergewaltigen und zu verstümmeln. Es würde ihm bereits schwer
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