Das Buch der Toten
Dämmerlicht. Die Zeitschriften waren ordentlich gestapelt. Drei rote Klingelknöpfe neben der Tür zu den Sprechzimmern waren mit Allisons Namen und denen ihrer Mitarbeiterinnen beschriftet: C. Martino, M. A., und Dr. E. Bracht. Ich klingelte, und einen Augenblick später öffnete sie die Tür.
Ihr schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, sie trug ein knöchellanges, marineblaues Crepekleid und dazu mattbraune Stiefel. Das Kleid hatte einen tiefen U-Ausschnitt, der bis unter das Schlüsselbein reichte. Das gleiche, exakt aufgetragene Makeup wie bei unserem ersten Treffen. Der gleiche Diamantschmuck an Handgelenk, Hals und Ohren, doch um die großen blauen Augen herum war eine gewisse Anspannung zu erkennen. Bei unserer ersten Begegnung hatte sie stets Blickkontakt gehalten. Jetzt fixierte sie einen Punkt irgendwo über meiner linken Schulter.
»Tut mir Leid, dass Sie wegen mir den weiten Weg kommen mussten«, sagte sie, »aber ich wollte nicht am Telefon darüber reden.«
»Es macht mir nichts aus, hier zu sein.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Also, dann kommen Sie doch bitte herein.«
Ihr Sprechzimmer war in denselben Wasser und Sandtönen dekoriert und ähnlich dezent beleuchtet wie der Wartebereich. Der Raum war groß genug für eine Gruppentherapie, aber für Einzelsitzungen eingerichtet, mit einem Schreibtisch in der Ecke, einem Sofa und zwei Sesseln, die einander gegenüberstanden. Sie nahm auf einem davon Platz, und ich setzte mich auf den anderen. Das blaue Kleid ließ nur sehr wenig Haut sehen, doch es lag eng an, und als sie es sic h auf dem Sessel bequem machte, sah ich das Spiel ihrer Muskeln und die weiblichen Kurven, die geschwungene Linie des Oberschenkels, die Brüste, über denen sich der Stoff straffte.
Dann fiel mir ihre Erfahrung mit Michael Larner ein, und ich lenkte meine Gedanken auf eine andere Schiene.
Sie sagte: »Vielleicht stellt sich ja heraus, dass das alles nicht so wichtig ist, aber angesichts der ernsten Angelegenheit, mit der Sie sich befassen, hielt ich es für besser, es Ihnen zu sagen.«
Sie wechselte die Sitzhaltung und ließ mich einen anderen Aspekt ihrer Figur sehen. Es war nichts Verführerisches daran; sie hatte die Lippen fest geschlossen.
»Ich bin dankbar für jede Hilfe«, sagte ich.
Sie sog die Unterlippe zwischen die Zähne und biss darauf, ballte die Hände zu Fäusten, schüttelte den Kopf.
Wir schwiegen beide. Zwei Therapeuten, die die Stille auszuloten suchten.
Sie sagte: »Gleich nach unserem Gespräch ist mir noch etwas eingefallen. Ich hatte es ganz vergessen oder vielleicht hatte ich es überhaupt nicht richtig registriert, weil ich damals… Es hat sicher nichts zu besagen, aber kurz nach Willie Burns' Entlassung aus Achievement House, vielleicht eine Woche später, war ich bei ihm. Bei Larner. Und er war wütend auf Willie. Total aufgebracht. Ich weiß das, weil er mich zu sich in sein Büro gerufen hat, und es war nicht zu übersehen, wie verärgert er war. Ich habe es eigentlich nie unter dem Aspekt der Geschichte mit Willie gesehen, weil ich meine eigenen Probleme hatte…« Sie biss sich wieder auf die Unterlippe. »Ich muss ein wenig ausholen…«
Sie löste ihren Pferdeschwanz, schüttelte ihre schwarze Mähne aus und band sie wieder zusammen. Dann zog sie die Beine an, schlang die Arme um den Leib und starrte den Teppich an.
»Larner war mir schon eine Weile nachgestiegen. Es ging los, kurz nachdem ich in Achievement House angefangen hatte. Nichts allzu Offensichtliches, nur hier ein Blick, dort ein Lächeln; kleine Randbemerkungen über meine Kleider, wie hübsch sie seien, was für ein nettes, gesundes Mädchen ich doch sei. Wenn er mir auf dem Flur begegnete, tätschelte er mir schon mal den Kopf, streifte meine Hüften oder fasste mich am Kinn. Ich wusste, was da ablief, aber was ich mir nicht klar machte, war, wie falsch es war.« Sie griff sich in die Haare, strich die Enden glatt. »Ich wollte nicht fort von Achievement House; ich dachte, ich könnte dort in den Sommerferien wertvolle Erfahrungen sammeln. Und selbst wenn ich irgendjemandem davon erzählt hätte, was hatte er mir denn im Grunde Böses getan?«
»Ganz schön raffiniert von ihm«, sagte ich.
»Raffiniert und heimtückisch und überhaupt ziemlich widerlich. Ich versuchte ihm aus dem Weg zu gehen. Meistens funktionierte es auch. Aber an diesem Tag, es war ein Montag, das weiß ich noch, denn ich war am Wochenende am Strand gewesen und war richtig braun
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