Das Buch der Toten
fallen, die nötige Konzentration aufzubringe n, meinen Sie nicht? Jedenfalls war das vor vielen Jahren so, als ich mit Süchtigen gearbeitet habe.«
»Wann war das?«
»In meiner AiP -Zeit habe ich im Bundeskrankenhaus in Lexington alle Stationen durchgemacht.«
»Wo sind Sie eigentlich nicht gewesen, Bert?«
»Ach, an vielen Orten… verzeihen Sie mir, Alex, ich schweife ab. Was weiß ich denn schon über Verbrechen? Sie sind doch der Experte.«
Als ich in den Wagen stieg, sagte er: »Was ich vorhin über Robin gesagt habe, ich wollte mir nicht anmaßen, Ihnen Ratschläge zu geben, wie Sie Ihr Leben zu leben haben. Ich habe mir heute einiges angemaßt, nicht wahr?«
»Ich habe es nicht so aufgefasst, Bert.«
Er seufzte. »Ich bin ein alter Mann, Alex. Die meiste Zeit fühle ich mich jung, manchmal wache ich morgens auf und würde am liebsten gleich in die Vorlesung rennen und mein Notizheft zücken und dann schaue ich in den Spiegel… So ist der Kreislauf des Lebens. Man fallt zurück in frühere Stadien. Und verliert das Gespür für das, was angemessen ist. Verzeihen Sie mir.«
Seine grauen Augen füllten sich mit Tränen.
»Es gibt nichts zu verzeihen«
»Es ist freundlich von Ihnen, das zu sagen.«
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter. Unter dem roten Polyester fühlte sich sein Körper zart und zerbrechlich und klein an. »Ist alles in Ordnung, Bert?«
»Alles ist so, wie es sein soll.« Er tätschelte meine Hand.
»War schön, Sie zu sehen, mein Sohn. Geben Sie nicht auf.«
»Meinen Sie den Fall?«
»Ich meine alles, was Ihnen wichtig ist.«
Ich fuhr die Straße hinunter, hielt kurz an, um noch einen Blick in den Rückspiegel zu werfen, und sah, dass er noch immer in der Einfahrt stand. Er winkte, eine müde Geste.
Er ist zerstreut, dachte ich, während ich davonfuhr. Und dann die plötzlichen Stimmungsumschwünge, die Tränen. Nicht mehr der muntere, lebensfrohe Bert, den ich gekannt hatte.
Die Anspielungen auf seine Senilität. Alles im normalen Bereich für meine Altersgruppe. Als ob er sich selbst einem Test unterzogen hätte. Vielleicht hatte er das tatsächlich getan. So ein beeindruckender Charakter, und er hatte Angst…
Mehrmals hatte er mich mit »mein Sohn« angesprochen. Mir fiel auf, dass er ungeachtet all seiner Reisen und Abenteuer und obwohl er einmal erwähnt hatte, dass er verheiratet gewesen war, nie von Kindern gesprochen hatte. Allein in einem Haus voller Spielsachen. Wie würde ich leben, sollte ich so alt werden wie er?
Ich war kurz vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause, den Kopf voll grellen Scheinwerferlichts, die Lungen voller Smog. An meinem Anrufbeantworter blinkte keine Zahl, aber bei meinem Telefonservice waren zwei Nachrichten hinterlassen worden: Irgendjemand wollte mir eine Erdbebenversicherung verkaufen, und Dr. Allison Gwynn bat um Rückruf.
Eine junge weibliche Stimme antwortete, als ich in Allisons Praxis anrief.
»Hallo, Dr. Delaware, ich bin Connie Martino, Dr. Gwynns psychologische Assistentin. Sie hat gerade Sprechstunde, aber sie hat mir ausgerichtet, dass sie Sie gerne sprechen würde. Um acht ist sie mit ihrer letzten Patientin fertig, und wenn Sie möchten, können Sie danach hierher in die Praxis kommen. Oder Sie sagen mir, was Ihnen besser passt.«
»Acht Uhr passt mir gut.«
»Prima, ich richte es ihr aus.«
Um zwanzig vor acht fuhr ich los in Richtung Santa Monica. Das Gebäude, in dem Allison Gwynn ihre Praxis hatte, lag an der Montana Avenue, östlich von der Boutiquenmeile der »Beach City«. Es war ein helles einstöckiges Haus im modernistischen Stil der späten Vierziger, mit abgerundeten Ecken, Fenstergittern und apricotgetönter Außenbeleuchtung. Neben der Eingangstür war ein kleines Beet mit Taglilien, die unter der künstlichen Beleuchtung bleich aussahen. Das Haus wurde von vier Parteien genutzt: von einem plastischen Chirurgen, einem Endodontologen, einer aus drei Frauen bestehenden Praxisgemeinschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, und von Dr. A. Gwynn und Mitarbeiterinnen, die ihre Räume im hinteren Teil hatten.
Allisons Wartezimmer war leer und roch nach Gesichtspuder, Parfüm und einem Hauch von Angstschweiß. Es war mit tiefen Wollteppichen, Polstersesseln und Drucken mit Seemotiven eingerichtet, alles farblich aufeinander abgestimmt in zarten Aquamarin und Beigetönen, als habe jemand den Strand ins Haus zu holen versucht. gedimmte Halogenspots verbreiteten einen weißlichgoldenen Schein, der Strand im
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