Das Buch der Toten
griff hinter einen anderen Stuhl, um ein altes, schwarzes Telefon mit Wählscheibe hervorzuholen, das er mir reichte.
Ich nahm den Hörer ab. Kein Freizeichen. »Tot«, sagte ich.
Bert nahm das Telefon, drückte die Gabel herunter, wählte die Null. Schüttelte den Kopf.
»Haben Sie hier öfter Probleme mit dem Telefon?«
»Nein, Sir«, antwortete Bill. »Nicht, dass wir es viel benutzen würden; vielleicht…« Er runzelte die Stirn. »Ich kenne diesen Geruch.«
»Welchen Geruch?«, fragte ich.
Die Erschütterung kam aus dem hinteren Teil des Hauses. Ein Schlag gegen die Holzwand, gefolgt von einem lauten, heftigen Zischen. Und dann das Glissando von splitterndem Glas.
Bill drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Bert und ich starrten einander entgeistert an. Nur Aimée schien das alles nicht zu berühren.
Plötzlich war es taghell, ein falsches, orangefarbenes Tageslicht erfüllte das Schlafzimmer, dann schlug uns ein Schwall heißer Luft entgegen, und es knisterte wie Zellophan.
Flammen züngelten an den Vorhängen, breiteten sich blitzartig nach oben und unten aus. Ich rannte auf die Schlafzimmertür zu und schlug sie zu, um dem Inferno Einhalt zu gebieten. Rauch quoll unter der Tür hindurch, und dann stieg mir der Geruch in die Nase: metallisch und beißend, der bittere Ozongeruch eines Gewitters, dessen Blitze einen verpesteten Himmel aufreißen.
Der Rauch, der durch die Türritzen drang, wurde immer dichter, aus kleinen Fähnchen wurden verschlungene Spiralen, dann dichte, ölige Wolken, zuerst Weiß, dann Grau und schließlich Schwarz. Schon nach wenigen Sekunden konnte ich die anderen nur noch schemenhaft erkennen.
Es wurde heiß wie in einem Backofen.
Der zweite Molotow-Cocktail schlug ein. Wieder von hinten. Irgendjemand hatte hinter dem Haus Stellung bezogen, im Wald, dort, wo die Telefonleitungen verliefen.
Ich packte Bills Rollstuhl, winkte hektisch in Richtung der vernebelten Silhouetten von Bert und Aimée.
»Los, raus hier!« Dabei wusste ich genau, dass sie dort draußen alles andere als sicher sein würden. Aber die Alternative war, sich bei lebendigem Leib rösten zu lassen.
Keine Antwort und jetzt konnte ich sie überhaupt nicht mehr sehen. Ich schob Bill auf die Haustür zu, während hinter mir das Feuer wütete. Die Tür brach ein, und Flammen schössen hindurch, während ich den Rollstuhl weiterschob und blind nach Bert und Aimée tastete. Rauch drang in meine Lungen, als ich schrie: »Da draußen lauert jemand! Duckt euch«
Meine Worte wurden von einem krampfhaften Hustenanfall erstickt. Ich erreichte mit Mühe und Not die Tür, griff nach der Klinke und glühend heißes Metall verbrannte meine Hand.
Behindertengerechte Schwingtür, du Idiot. Ich warf mich mit der Schulter dagegen, zerrte Bills Rollstuhl durch, stolperte ins Freie. Meine Augen brannten, ich würgte und hustete.
Dann lief ich mit dem Rollstuhl los in die Dunkelheit, orientierte mich nach links, hörte, wie eine Kugel in eines der vorderen Fenster schlug.
Rauchschwaden quollen aus dem Haus, eine dichte, alles erstickende Wand. Gut als Deckung, aber giftig. Ich lief so weit wie möglich abseits des Kiespfads, in das Unterholz hinein, das die Ostgrenze des Grundstücks markierte. Ich rannte mit dem Rollstuhl, so schnell ich konnte, kämpfte mich über Steine und Wurzeln, blieb im Gestrüpp hängen und bekam die Räder plötzlich nicht mehr frei.
In der Falle. Ich hob Bill aus dem Stuhl, warf ihn über die Schulter und lief los, jetzt wieder vom Adrenalin getrieben, doch sein Gewicht zog mich nach unten, ich bekam kaum noch Luft, und nach zehn Schritten war ich dem Kollaps nahe.
Meine Beine drohten unter mir wegzuknicken. Ich stellte mir vor, sie seien Eisenstangen, zwang sie zurück in die Vertikale, bekam plötzlich gar keine Luft mehr, blieb stehen, verlagerte die Last auf meinen Schultern, schnappte nach Luft, hustete. Ich spürte, wie Bills Beinstümpfe gegen meine Oberschenkel schlugen, fühlte am Hals die trockene Haut seiner Hand, mit der er sich an mir festhielt.
Er sagte etwas, ich spürte es mehr, als dass ich es hörte und ich trug ihn tiefer in den Wald hinein. Kämpfte mich noch zehn Schritte weiter, zählte sie einzeln; jetzt waren es zwanzig, dann dreißig, dann musste ich wieder innehalten, um meine Lungen mit Luft voll zu pumpen.
Ich blickte zum Haus zurück. Von den grellen Flammen war nichts mehr zu sehen, nur noch Rauch dicke Säulen, so dunkel, dass sie mit dem
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