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Das Buch der Toten

Das Buch der Toten

Titel: Das Buch der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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Entschuldigung dafür, dass sie nicht zurückgerufen hatte. Als das Lächeln verflogen war, wirkte sie fast gänzlich emotionslos, und ich fragte mich, ob das ausgeglichene Gemüt ihrer Pferde etwas damit zu tun hatte.
    »Ich kenne diesen Cop-Blick«, erklärte sie.
    »Was ist denn das für ein Blick, Ma'am?«
    »Angst, gemischt mit Wut. Immer auf das Schlimmste gefasst. Manchmal, wenn ich mit Pierce ausgeritten bin und wir irgendein Geräusch gehört haben, ein Rascheln im Unterholz, dann hat er diesen Blick in die Augen bekommen. Nun… Sie waren also sein letzter Partner. Er hat oft von ihnen erzählt.« Sie streifte mich mit einem Blick. Die Vergangenheitsform lud ihre Worte mit ominöser Bedeutung auf.
    Sie biss sich auf die Unterlippe. »Pierce ist tot. Er ist letztes Jahr gestorben.«
    »Das tut mir Leid.«
    »Mir auch. Er fehlt mir sehr.«
    »Wann ist…«
    »Er ist vor sieben Monaten vom Pferd gestürzt. Es war Akhbar, einer meiner Bravsten. Pierce war kein Cowboy; bevor er mich kennen lernte, ist er nie geritten. Deshalb habe ich ihm auch Akhbar als Reitpferd gegeben, und die beiden haben sich gut verstanden. Aber Akhbar muss sich vor irgendetwas erschrocken haben. Ich habe ihn unten am Lake Casitas gefunden, er lag auf der Seite und hatte zwei Beine gebrochen. Pierce lag ein paar Meter weiter, hatte sich an einem Stein den Kopf aufgeschlagen. Kein Puls mehr. Akhbar mussten wir den Gnadenschuss geben.«
    »Das tut mir entsetzlich Leid, Ma'am.«
    »Ja. Ich komme einigermaßen klar damit. Es ist dieses plötzliche Verschwinden, das einem so zusetzt. Da ist ein Mensch heute noch da und dann…« Marge Schwinn schnippte mit den Fingern. Sie musterte Milo von Kopf bis Fuß. »Sie sind mehr oder weniger so, wie ich Sie mir vorgestellt habe, wenn man bedenkt, wie viel Zeit seither vergangen ist. Sie sind doch nicht etwa gekommen, um mir irgendetwas Schlechtes über Pierce zu erzählen, oder?«
    »Nein, Ma'am, weshalb sollte ich?«
    »Sagen Sie Marge zu mir. Pierce war mit Leib und Seele Polizist, aber er war bitter enttäuscht vom Department. Er sagte, sie hätten ihn schon seit Jahren auf dem Kieker gehabt, weil er ein Individualist war. Ich bin auf die Pension angewiesen, will keinen Ärger, will mir keinen Anwalt nehmen müssen. Deshalb habe ich Sie nicht zurückgerufen. Ich wusste ja nicht, was Sie im Schilde führen.«
    Ihrer Miene war anzusehen, dass sie sich immer noch nicht sicher war.
    Milo sagte: »Es hat absolut nicht mit Milos Pension zu tun, und ich bin auch nicht im Auftrag des Departments hier. Ich arbeite an einem Fall.«
    »An einem Fall, den Sie schon mit Pierce bearbeitet haben?«
    »An einem Fall, den ich mit Pierce bearbeiten sollte, bevor er aus dem Dienst ausgeschieden ist.«
    »Aus dem Dienst ausgeschieden«, wiederholte Marge. »So kann man es auch ausdrücken… Na ja, das ist ja nett. Das hätte Pierce gefallen, dass Sie nach all den Jahren kommen, um seinen Rat einzuholen. Er sagte, Sie hätten was auf dem Kasten. Kommen Sie rein, der Kaffee ist noch warm. Erzählen Sie mir von Ihrer Zeit mit Pierce. Erzählen Sie mir etwas Erfreuliches.«
    Das Haus war einfach eingerichtet, mit niedrigen Decken und Wänden, die teils mit unbearbeitetem Kiefernholz verschalt, teils mit sandfarbenem Grasleinen verkleidet waren; eine Reihe enger, düsterer Zimmer, ausgestattet mit verschlissenen, spießigen Fünfzigerjahre-Möbeln, für die ein zwanzigjähriges Starlet in einer der angesagten »Junktiques« an der La Brea bereitwillig einen schamlos überhöhten Preis gezahlt hätte.
    Das Wohnzimmer grenzte an eine kleine Küche im hinteren Teil des Hauses. Wir nahmen an einem Nierentisch aus hellem Holz Platz, während Marge Schwinn nach Zichorien duftenden Kaffee in Becher füllte. An der Wand hingen Drucke mit Westernmotiven, daneben Pferdeporträts. In einer Ecke stand ein Trophäenschrank voll mit Goldpokalen und Seide; gegenüber davon ein alter Magnavox-Fernsehschrank mit Bakelit-Skala und einem gewölbten, grünlichen Bildschirm. Auf dem Gerät stand ein einzelnes gerahmtes Foto, das einen Mann und eine Frau zeigte; Einzelheiten waren aus der Entfernung nicht zu erkennen. Das Küchenfenster gab den Blick auf ein Gebirgspanorama frei, doch die übrigen Fenster waren zur Koppel hin ausgerichtet. Die Pferde hatten sich kaum von der Stelle bewegt.
    Als Marge mit dem Einschenken fertig war, setzte sie sich auf einen Stuhl mit gerader Rückenlehne, der ihrer perfekten Körperhaltung entsprach. Junger

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