Das Buch der Toten
bester Freund.«
Milo nickte. »Wann ist Pierce von dem Speed losgekommen?«
»Er war schon dabei, es sich abzugewöhnen, als wir uns kennen lernten. Deshalb ist er auch in diese Bruchbude gezogen. Er wo llte sich selbst bestrafen. Er hatte Ersparnisse, er hatte seine Pension, aber gelebt hat er wie ein Penner. So hat er sich nämlich selbst gesehen. Als wir anfingen, zusammen auszugehen, war er schon clean. Aber er war überzeugt, dass er Schäden davongetragen hatte. ›Ein Gehirn wie ein Schweizer Käse‹, hat er immer gesagt. Er meinte, wenn sie je seinen Schädel röntgen würden, dann würden sie Löcher finden, so groß, dass man einen Finger durchstecken könnte. Es waren hauptsächlich der Gleichgewichtssinn und das Gedächtnis. Er musste sich alles aufschreiben, sonst war es einfach weg. Ich sagte ihm, das wäre bloß das Alter, aber ich konnte ihn nicht überzeugen. Als er mir sagte, er würde gerne reiten lernen, war ich beunruhigt. Er war ja schließlich kein junger Mann mehr, er war unerfahren und hatte Probleme mit dem Gleichgewicht. Aber Pierce hat es immer geschafft, sich im Sattel zu halten, bis… Die Pferde haben ihn geliebt, er hatte einen beruhigenden Einfluss auf sie. Vielleicht lag es an all dem, was er durchgemacht hatte, bis er endlich clean war. Vielleicht hat ihn das auf eine Ebene gebracht, die er nie erreicht hätte, wenn er nicht so gelitten hätte. Es fällt Ihnen vielleicht schwer, das zu glauben, Detective Sturgis, aber in seiner Zeit mit mir war Pie rce ein wunderbar gelassener und heiterer Mensch.«
Sie stand auf, nahm das Bild vom Fernsehschrank und hielt es uns hin. Das Foto zeigte sie und Schwinn; sie lehnten an den Zaunpfosten der Koppel vor dem Haus. Mein Bild von Schwinn basierte ausschließlich auf Milos Beschreibung des hageren Okies, als den er ihn gekannt hatte, und so hatte ich einen grauhaarigen alten Cop erwartet. Doch der Mann auf dem Foto hatte langes weißes Haar, das ihm in Strähnen über die Schultern fiel, und einen schneeweißen Bart, der ihm fast bis zum Nabel reichte. Er trug eine erdnussfarbene Wildlederjacke, Bluejeans und Jeanshemd, Armband und einen Ohrring aus Türkis. Trapper der alten Schule oder gealterter Hippie, Hand in Hand mit einer sonnenverbrannten Frau, die ihm kaum bis zur Schulter reichte. Ich sah, wie Milos Augen sich weiteten.
»Er war mein Flower-Power-Opa«, sagte Marge. »Anders als der Pierce, den Sie gekannt haben, hm?«
»Ein bisschen«, sagte Milo.
Sie legte das Bild auf ihren Schoß. »Also, welchen Rat hatten Sie sich denn von Pierce erhofft bei Ihrem Fall?«
»Ich habe mich bloß gefragt, ob Pierce sich noch an das eine oder andere erinnert.«
»So eine alte Geschichte, und Sie arbeiten wieder daran? Wer ist denn das Opfer?«
»Ein Mädchen namens Janie Ingalls. Hat Pierce je ihren Namen erwähnt?«
»Nein«, sagte sie. »Wie ich schon sagte, er hat nie über seine Arbeit gesprochen. Tut mir Leid.«
»Hat Pierce irgendwelche Papiere hinterlassen?«
»Welche Art von Papieren?«
»Irgendetwas, was mit seiner Arbeit zu tun hatte - Zeitungsausschnitte, Fotos, Erinnerungsstücke?«
»Nein«, antwortete sie. »Als er aus dem Haus in Simi ausgezogen ist , hat er alles weggeworfen. Er hatte noch nicht einmal ein Auto. Wenn wir irgendwo hinfahren wollten, musste ich ihn immer abholen.«
»In der Zeit, als ich ihn gekannt habe«, sagte Milo, »war er ein richtiger Fotonarr. Hat er das Hobby je wieder aufgegriffen?«
»Ja, allerdings. Er ist gerne durch die Berge gestreift und hat Naturszenen eingefangen. Hat sich einen billigen kleinen Fotoapparat zugelegt. Als ich sah, wie viel Spaß ihm das machte, habe ich ihm zum achtundsechzigsten Geburtstag eine Nikon geschenkt. Seine Bilder waren wirklich hübsch. Wollen Sie sie sehen?«
Sie führte uns in das einzige Schlafzimmer des Hauses, eine ordentlich aufgeräumte Kammer, in der ein französisches Bett mit einer Batik-Tagesdecke stand, flankiert von zwei nicht zueinander passenden Nachttischen. Die mit Kiefernholz getäfelten Wände waren mit gerahmten Fotos gepflastert. Berge, Täler, Bäume, Gebirgsbäche und ausgetrocknete Wasserläufe, Sonnenaufgänge, Sonnenuntergänge, Schneelandschaften wie Zuckerguss. Kräftige Farben, guter Bildaufbau. Aber nichts, was auf der Evolutionsleiter oberhalb des Pflanzenreichs gestanden hätte, nicht einmal ein Vogel am Himmel.
»Hübsch«, sagte Milo. »Hatte Pierce seine eigene Dunkelkammer?«
»Wir haben dafür eine Toilette umgebaut.
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