Das Buch der Toten
populärpsychologische Klischee. Sie hatte Besseres verdient.
Ich liebte sie, sie liebte mich. Und warum rief sie dann nicht an? Werde endlich erwachsen, Kumpel; es sind erst zwei Tage, und bei ihrem letzten Anruf hast du nicht gerade vor Charme gesprüht. War ich bei irgendeinem Test durchgefallen, als ich sie zu schnell hatte gehen lassen? Vor zehn Jahren war sie schließlich zurückgekommen, aber erst, nachdem… Fang jetzt nicht damit an.
Aber in diesem Moment wollte ich nur eines: Strafe. Den Deckel aufmachen, die Dämonen aus der Kiste lassen.
Das erste Mal war sie lange weggeblieben, und schließlich hatte ich eine andere Frau gefunden. Und dann war die Affäre zu Ende gegangen, lange bevor Robin zurückgekommen war. Als wir wieder zusammengekommen waren, war sie mir etwas labil vorgekommen, aber ansonsten schien alles in Ordnung zu sein. Und dann war sie eines Tages zusammengebrochen und hatte gebeichtet. Sie hatte auch jemanden gefunden. Einen Typen, einfach irgendeinen Typen, einen blöden Typen, sie war so blöd gewesen… Wirklich blöd, Alex.
Ich hatte sie im Arm gehalten, sie getröstet. Dann hatte sie es mir gesagt. Schwangerschaft, Abtreibung. Sie hatte es dem Kerl nie gesagt, Dennis, ich hatte den Namen schon verdrängt, der gottverdammte Dennis hatte sie geschwängert, und sie hatte ihn verlassen, war allein durch die Hölle gegangen.
Ich hielt sie fest im Arm, sagte die richtigen Worte, was für ein einfühlsamer Typ, das Verständnis in Person. Aber eine hartnäckige kleine Stimme in meinem Kopf wollte sich einfach nicht von dem Offensichtlichen ablenken lassen: All die Jahre, die wir zusammen gewesen waren, hatten wir einen permanenten Eiertanz um die Themen Heirat und Kinder aufgeführt. Hatten immer aufgepasst. Ein paar Monate ohne mich, und schon hatte der Samen eines anderen Mannes den Weg in… Hatte ich ihr je wirklich verziehen?
Stellte sie sich vielleicht auch diese Frage? Woran dachte sie in diesem Moment? Wo, zum Teufel, war sie?
Ich griff nach dem Telefon, überlegte, wen ich anrufen könnte, und fegte den verdammten Apparat vom Schreibtisch auf den Boden - Mr. Bell, Sie können mich mal. Mein Gesicht glühte, meine Knochen schmerzten, und ich begann im Zimmer auf und ab zu gehen, wie Milo es immer tat. Und ich beschränkte mich nicht auf das eine Zimmer, ich rannte im ganzen Haus umher, aber es wollte mir einfach nicht gelingen, den Schmerz auszubrennen. Trautes, erdrückendes Heim. Ich lief zur Tür, riss sie auf, stürzte mich in die Nacht.
Ich ging die Talstraße entlang in Richtung Norden, hinauf in die Berge. Ich machte es genau falsch, mit dem Verkehr im Rücken, unbeeindruckt vom Dröhnen der herannahenden Motoren, dem Aufblitzen der Scheinwerfer.
Autos brausten hupend vorüber. Irgendjemand schrie: »Idiot!« Es war ein gutes Gefühl. Ich musste einige Meilen laufen, bevor es mir gelang, das Bild von Janie Ingalls' Leiche heraufzubeschwören und zu entspannen.
Als ich zum Haus zurückkam, war die Tür nur angelehnt, ich hatte vergessen, sie zu schließen und der Wind hatte Laub in die Diele geweht. Ich kniete mich hin, las alles bis auf den kleinsten Fetzen auf und ging dann in mein Arbeitszimmer zurück. Das Telefon lag noch auf dem Boden. Der Anrufbeantworter war auch heruntergefallen und lag mit herausgezogenem Stecker da. Aber der Apparat im Schlafzimmer blinkte.
Eine Nachricht.
Ich ignorierte den Anrufbeantworter, ging in die Küche, nahm die Wodkaflasche aus dem Gefrierfach. Ich benutzte sie, um mir das Gesicht und die Hände zu kühlen, dann legte ich sie zurück ins Fach. Ich sah stundenlang fern, ließ hohles Gelächter und krampfhafte Dialoge über mich ergehen, unterbrochen durch Werbespots für pflanzliche Potenzmittel und Wunder der Chemie, gegen die selbst die hartnäckigsten Flecken keine Chance hatten.
Kurz nach Mitternacht drückte ich die Abspieltaste des Anrufbeantworters im Schlafzimmer.
»Alex?… Anscheinend bist du nicht zu Hause. Wir sollten eigentlich nach Kanada fliegen, aber wir sind in Seattle aufgehalten worden, wir machen eine Zusatzveranstaltung… Es waren noch ein paar Änderungen am Equipment erforderlich, bevor sie loslegen konnten, also hatte ich alle Hände voll zu tun… Schätze, du bist wieder mal unterwegs… Also, ich bin jedenfalls im Four Seasons in Seattle. Sie haben mir ein nettes Zimmer gegeben… Es regnet. Alex, ich hoffe, es geht dir gut. Bestimmt geht's dir gut. Ciao, Liebling.«
Ciao, Liebling.
Kein Ich liebe
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