Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
was ich dachte, was ich in mir vergaß – all das, dieses Amalgam aus Schatten, Fiktionen und Gewissensbissen auf der Fahrspur der Welten, fällt unter die Dinge des Lebens wie die Stiele der gestohlenen Trauben, die Jungen im Schutz der Straßenecke essen.
Das Geräusch des menschlichen Tages nimmt mit einem Mal zu wie ein Klingelton. Im Inneren des Hauses öffnet sich sanft das Schloß der ersten Tür ins Leben. Ich vernehme Pantoffeln auf einem absurden Gang, der zu meinem Herzen führt. Und mit einer jähen Bewegung, wie einer, dem es endlich gelingt, sich umzubringen, reiße ich mir die Bettlaken – meinen weichen, behaglichen Schutz – vom steifen Leib. Ich bin hellwach. Das Geräusch des Regens verklingt nach oben, ins unklare Äußere. Ich fühle mich glücklicher. Ich habe etwas erfüllt, was, weiß ich nicht. Ich stehe auf, trete ans Fenster und öffne mutig entschlossen die Läden. Das sanfte Licht eines leuchtend klaren Regentags flutet an meine Augen. Ich öffne die Fenster. Frische Luft legt sich feucht auf meine warme Haut. Es regnet, ja, regnet immer noch, aber weniger! Ich will mich erfrischen, ich will leben und halte dem Leben meinen Hals hin wie einem riesigen Ochsenjoch.
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29 . 8 . 1933
Hin und wieder herrscht in Lissabon ländliche Ruhe. Manchmal, insbesondere zur Mittagszeit im Sommer, kommt das Land wie ein Windstoß in die lichterfüllte Stadt. Und sogar hier in der Rua dos Douradores schlafen wir dann einen ruhigen Schlaf.
Wie wohltuend für die Seele, unter einer hohen stillen Sonne diese strohbeladenen Fuhrwerke, diese unverpackten Kisten, diese uneiligen Passanten einer dörflich gewordenen Stadt verstummen zu sehen! Ich selbst, der ich sie vom Fenster des verwaisten Büros aus betrachte, befinde mich an einem anderen Ort: einem stillen Marktflecken in der Provinz, lebe dahin in einem kleinen, unbekannten Dorf und bin glücklich, weil ich ein anderer bin.
Ich weiß: Wenn ich aufsehe, sind da die schmutzigen Häuserzeilen, die ungeputzten Fenster aller Büros der Unterstadt, die widersinnigen Fenster der oberen Etagen, wo noch immer Leute wohnen, und ganz oben, zwischen den Giebelfenstern, zwischen Blumentöpfen und Pflanzen, in der Sonne, die ewig flatternde Wäsche. Ja, ich weiß, aber das Licht, das all dies vergoldet, ist so sanft, so ohne Sinn die stille Luft, die mich umgibt, daß ich nicht einmal einen »sichtbaren« Grund habe, auf mein Potemkinsches Dorf zu verzichten, meinen kleinen Marktflecken, wo der Handel ein Ausruhen ist.
Ich weiß, ich weiß … Es ist in der Tat die Stunde des Mittagessens, der Entspannung oder des Nichtstuns. Alles geht gut an der Oberfläche des Lebens. Ich selbst schlafe, auch wenn ich mich über das Balkongeländer lehne wie über die Reling eines Schiffes, das mir eine neue Landschaft erschließt. Selbst ich lasse meine Gedanken ruhen, als lebte ich in der Provinz. Aber mit einem Mal taucht etwas anderes auf, hüllt mich ein und befiehlt mir: Und schon sehe ich hinter dem Mittag des Marktfleckens alles Leben in dieser kleinen Stadt; ich sehe das große stumpfsinnige Glück des Familienlebens das große stumpfsinnige Glück des Lebens auf dem Lande, das große stumpfsinnige Glück der Ruhe inmitten von Schmutz. Ich sehe, weil ich sehe. Aber ich habe nicht gesehen und wache auf. Ich schaue umher, lächle und klopfe als erstes den Staub von den Ellbogen meines leider dunklen Anzugs, der sich auf dem nie gesäuberten Balkongeländer angesammelt hat, und weiß noch nicht, daß dieses Geländer eines Tages, wenn auch nur für Augenblicke, die staubfreie Reling eines Schiffes auf einer endlosen Kreuzfahrt werden soll.
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Gegen das im nächtlichen Grün verblaßte Blau hob sich am Sommerhorizont braunschwarz und umflort von gelblichem Grau die kalte Unregelmäßigkeit der Bauten ab.
Einst beherrschten wir den physischen Ozean und schufen die universelle Zivilisation; heute beherrschen wir den psychischen Ozean, die Emotion, das mütterliche Temperament, und erschaffen die geistige Zivilisation.
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… die schmerzhafte Intensität meiner Empfindungen, selbst glücklicher; die glückliche Intensität meiner Empfindungen, selbst trauriger.
Ich schreibe, es ist Sonntag, später Vormittag, der Tag ist weit, das Licht weich, über den Dächern der stillstehenden Stadt schließt das Blau eines stets neuen Himmels die geheimnisvolle Existenz der Gestirne ein in Vergessen …
Auch in mir ist Sonntag …
Auch mein Herz geht in eine
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